Impuls vom 26.12.2014

Menschenwürde

Papst Franziskus bittet in seiner heurigen Weihnachtsansprache um Frieden im Nahen Osten und in der ganzen Welt. Kardinal Marx fordert, die Liebe Gottes, die sich in Betlehem gezeigt hat, weiterzuschenken und für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft zu arbeiten. Der evangelische Landesbischof Bedford-Strohm ruft zu mehr Solidarität mit den Armen und Schwachen auf.
Nun, diese Aussagen habe ich natürlich erfunden- die Ansprachen dieser hohen Kirchenvertreter werden ja erst heute Nacht oder morgen gehalten. Ich könnte mir aber vorstellen, dass ihre Zusammenfassungen in der Presse, ganz unabhängig vom sonstigen Text, ungefähr so lauten werden. Denn das erwartet man halt an Weihnachten. Da darf und muss man sie halten: die "Sonntagsrede" (Martin Walser), die mit großem humanitären Pathos den lieben Gott ins Spiel bringt und eindringlich Frieden und Mitmenschlichkeit fordert.

Wozu darf dann ein kleiner Pfarrer in seiner Weihnachtspredigt aufrufen? - Ich fasse mir ein Herz und sage ebenso mit Pathos: zur Heiligkeit der Menschenwürde.
Die gehört nämlich auch zu Weihnachten, untrennbar. Das uralte Tagesgebet dieses Festes bringt es auf den Punkt. Da heißt es: "Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt." Das ist der Kern unseres Glaubens: Wir alle kommen von Gott- er hat uns als sein Bild erschaffen und damit eine unantastbare Würde gegeben. Ja mehr noch: Gott hat den Menschen so gewürdigt, dass er einer von uns geworden ist. Er steckt in unserer Haut, in unserem Fleisch und Blut. Gibt es eine stärkere Würdigung des Menschen als, wie das alte Gebet sagt, "teilzuhaben an der Gottheit Christi, der unsere Menschennatur angenommen hat"? "Christen lassen sich von niemandem darin übertreffen, groß vom Menschen zu denken." (Franz Kamphaus). Der heuer heiliggesprochene Johannes Paul II. hat in seiner Antrittspredigt gesagt: "Mit welcher Ehrfurcht muss ein Apostel Christi dieses Wort "Mensch" aussprechen!"

Das klingt jetzt vielleicht so selbstverständlich: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", Artikel 1 des Grundgesetzes. Das ist aber, wenn man in die Welt und in die Geschichte blickt, alles andere als selbstverständlich. Das ist letztlich erst durch Weihnachten in die Welt gekommen. Und es ist keine unverbindliche Sonntagsrede, sondern immer höchst konkret – so konkret wie das Weihnachtsevangelium.
Das schwärmt ja nicht irgendwie abstrakt über Mitmenschlichkeit, sondern erzählt von sehr realen Dingen: Von einem Kaiser Augustus, der – wie alle diese Gestalten der Weltgeschichte – Steuern braucht, um seine Soldaten zahlen zu können. Von der mühsamen Suche einer jungen Familie nach einem Fleckchen Erde, wo man ein Kind zur Welt bringen kann. Von einem Stall, in dem es sicher nicht gut gerochen hat. Von den ersten Besuchern, den Hirten – damals eine verachtete Gruppe mit dem Ruf von Kleinkriminellen. Und dann erzählt das Evangelium bald von Terror und Gewalt: von der Flucht der Heiligen Familie vor den Mordphantasien eines Tyrannen, von ihrem Schicksal als Asylanten in Ägypten.
Das alles ist so konkret, wie es auch heute als Schicksal konkret ist. So konkret wie dieser Kern unseres Glaubens, dass jeder Mensch von Gott unwiderruflich gewollt und angenommen und gewürdigt ist, egal ob Mann oder Frau, gesund oder krank, Christ oder Nichtchrist, schwarz oder weiß.

Hat es da nicht etwas Beklemmendes an sich, wie Jörg Zink einmal gesagt hat, dass unsere Gesellschaft ihr wichtigstes Fest im Bild eines heimatlosen Kindes in einer Notunterkunft feiert – und nichts dabei findet? - Jedenfalls finden die anscheinend wenig dabei, von denen man zur Zeit so viel hört: die "patriotischen Europäer", die das "Abendland" retten wollen. Was für ein schöner Gedanke eigentlich: Menschen, die für das christliche Europa mit seinen Werten demonstrieren. Nur kann man das halt nicht dadurch, dass man Ängste und dumpfe Ressentiments bedient. Wer das Abendland retten will, sollte für das streiten, was unserer Kultur zutiefst als ihr Fundament eingestiftet ist. Und das ist – da bin ich mir ganz sicher – dieser christliche, dieser weihnachtliche Kern: Dass jeder Mensch Bild Gottes ist. Dass ich in jedem Menschen Christus begegne, der unsere Menschennatur angenommen hat: in dem, der jetzt neben Ihnen in der Band sitzt- in Ihren Nachbarn daheim, den nettesten und den unausstehlichsten- und ebenso in den Menschen, die jetzt bei uns in der Scheuerer Siedlung und in der Rosenstraße wohnen. Und vielleicht sind die auch – ich hab" das schon einmal gesagt – so etwas wie eine Gnade Gottes: Damit wir ein bisschen aufgescheucht werden aus unserer Oberflächlichkeit und Selbstgefälligkeit. Und wir wieder mehr darüber nachdenken, wer wir eigentlich sind – und wer wir sein wollen.

"Mit welcher Ehrfurcht muss ein Apostel Christi das Wort "Mensch" aussprechen!" - Mal ehrlich: Nützen solche Sonntagsreden etwas? Nützt Weihnachten etwas?
Vor den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs hat Tucholsky gesagt: "Ich habe nichts gegen das Christentum. Aber man sieht: Es nützt nichts."
Aber einmal hat es doch etwas genützt, und das ist auf die Stunde genau hundert Jahre her: der kleine Friede im großen Krieg. Irgendwo an der Front in Flandern, so wird berichtet, erklang das "Stille Nacht". Und auf einmal hörten die Soldaten einfach auf zu schießen. Sie trafen sich, sangen Weihnachtslieder miteinander, teilten ihre Vorräte, beerdigten ihre Toten, spielten Fußball. Das Wunder dauerte nur wenige Tage, dann hatten Heeresleitungen und Offiziere die Lage wieder, wie sie es sahen, "unter Kontrolle". Aber wie anders wäre die Geschichte des Abendlandes verlaufen, wenn die einfachen Soldaten sich davon nicht hätten abbringen lassen: im anderen den Menschen zu sehen – und damit seine Würde und Heiligkeit.

Sich davon einfach nicht abbringen lassen! - Als die 17jährige Malala vor ein paar Wochen den Friedensnobelpreis bekommen hat, hat sie in ihrer Rede gesagt: "Ich danke meinem Vater, dass er meine Flügel nicht beschnitten hat und mich fliegen lässt."
Komisch, aber seitdem denke ich mir, dass das doch eigentlich ein wunderbares Weihnachtsgebet wäre: "Vater im Himmel, wir danken dir, dass du uns so wunderbar erschaffen und wiederhergestellt hast. Du stutzt uns nicht die Flügel, sondern lässt uns fliegen. Und darum haben wir als Menschen viel mehr Möglichkeiten, als wir ahnen …!

(Weihnachtspredigt 2014)