Impuls vom 26.02.2015

Was ist eine gute Religion?

Predigt von Bischof Norbert Trelle (Hildesheim) am 26. Februar 2015 bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Was ist eine gute Religion?

Vor zehn Tagen, am Karnevalssonntag, musste in Braunschweig, hier in unserem Bistum Hildesheim, der Karnevalsumzug abgesagt werden. Der Grund war eine konkrete Warnung vor einem Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund. Schon vorher wurde ein Motivwagen, der sich mit den Pariser Anschlägen auseinandersetzen wollte, aus dem Rosenmontagsumzug in Köln genommen. Es breitet sich Angst aus und sie dringt fast unmerklich in alle Winkel unserer Gesellschaft. Die Angst hat einen Namen: islamistischer Terror.

1. Es ist uns allen klar, dass der islamistische Terror nicht mit der gelebten und gelehrten Religion des Islam gleichgesetzt werden kann. Muslimische Bürger tragen ebenso zum Gemeinwohl und zum moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft bei wie dies christliche Bürger und Gemeinschaften tun. Könnte von daher unsere Gesellschaft das Glaubenszeugnis des Islam, sein hohes Ethos der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, seine Solidarität und Frömmigkeit nicht mit Zeichen der Wertschätzung entgegennehmen?

Gleichwohl läuft die öffentliche Debatte anders. Weltweit kommt eine Debatte über Religion auf. In ihr wird so gefragt: Wenn man auch islamistischen Terror und Islam nicht gleichsetzen kann, haben sie nicht beide aus der derselben Quelle getrunken, nämlich der Quelle des Irrationalen? Sind Religionen insofern alle, als irgendwie irrationale Gebilde, gefährlich? Denn gewiss ist es nicht von vornherein gefährlich zu sagen, Gott ist der Schöpfer der Welt. Aber wie ist es eigentlich, wenn mit dieser Überzeugung der Anspruch einhergeht, dieser Schöpfer, und nur er, bestimmt auch über den Sinn des Lebens? Wie ist es eigentlich für moderne Gesellschaften verkraftbar, wenn Religionen – alle Religionen – mit ihren Glaubensüberzeugungen absolute oder jedenfalls sehr weitgehende Wahrheitsansprüche verbinden?

Die Religionen sind, spätestens seit dem 11. September 2001, in Verdacht geraten, in den Verdacht, dass Religion in ihrem Glutkern zerstörerisch ist. Und wo Religion noch nicht zum Feindbild der Moderne avanciert ist, da werden doch diese Fragen gestellt: Gibt es eine gute Religion? Was ist eigentlich eine gute Religion? Mit diesen Fragen haben sich auch die theologischen Akzente der letzten Jahrzehnte verschoben. Die Religionen sind nicht mehr einfach nur in einer Gotteskrise, die Religionen sind weltweit in einer kulturellen Krise.

2. Was ist eine gute Religion? – Zumindest wird man schnell bestimmen, welche Religion nicht gut ist und insofern unverträglich mit unseren Gesellschaften: Keine gute Religion ist die Religion, die gewaltbereit und gewalttätig ist. Eine Religion, die den Tod von Menschen für ihre Glaubensüberzeugungen in Kauf nimmt oder sogar herbeiführt, die der Gewalt klammheimlich oder offen zustimmt, ist eine schlechte Religion. Allerdings ist auch keine gute Religion die gleichgültige. Wir wissen und haben es nach dem Krieg im Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 so vernommen, dass es uns heute noch in den Ohren klingt, dass eine gleichgültige, eine apathische, eine angepasste, eine nur um sich selbst besorgte, eine bloß ästhetische, rituell erstarrte Religion eine schlechte ist. Es ist heute die Religion, die den Menschen ins Unglück rennen lässt, indem sie ihn der Herrschaft der Technokratie überlässt- es ist die Religion, die zu allem Ja-und-Amen sagt- es ist die gleichgültige Religion die sich dem Pragmatismus beugt und sich vor der nächsten Entscheidung längst schon mit allem abgefunden hat.

Eine schlechte Religion schließlich ist die Religion, die den Menschen belügt. Das wäre eine Religion, die Versprechungen macht, statt Verheißungen zu bezeugen, eine Religion, die sich den bestehenden Ungerechtigkeiten dienlich macht, die vertröstet, sich aber aus dem Leben davonstiehlt- eine Religion, die immer nur siegen will, statt sich mit den Schwächsten zu solidarisieren – eine solche verlogene Religion ist eine schlechte.

3. Was ist eine gute Religion? – Lassen Sie mich drei Richtungen einer Antwort benennen:
•Eine gute Religion erkauft die Hinwendung zu Gott nicht mit einer Abwendung vom Menschen. Denn dies ist die kürzeste Definition des Fundamentalismus: die Abwendung vom Menschen im Namen Gottes. Ist nicht die getreue Übersetzung unseres Glaubens an die Menschwerdung Gottes in der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zu finden? Die Gottesrede der guten Religion wendet sich dem Menschen zu, zumal den Machtlosen, den Verstummten, den Verzweifelten.
•Die gute Religion ist ein Entwurf für die eine Menschheitsfamilie und nimmt jeden Menschen in wirkliche Gemeinschaft auf. Die gute Religion produziert keine Feindbilder und liefert der Feindschaft keine höheren Argumente. Denn sie hat erfahren, dass Gott Schöpfer ist als Schöpfer von Gemeinschaft, dass es möglich ist, bedingungslos zu lieben, ohne selbst der Dumme zu sein, dass im Verzeihen die Freiheit ihre Würde erhält, wie sie sich selbst auf Verzeihung angewiesen erfährt.
•Die gute Religion stellt sich den geschlossenen Systemen der Welt entgegen und führt über uns hinaus. Weder die Biologie noch die Logik von Leben und Tod, noch der Konsum, noch die Selbstbehauptung oder Selbstoptimierung gelten der guten Religion als das Absolute. Im Letzten ist die gute Religion sich selbst nicht das Absolute. Deshalb wird die gute Religion nicht als Erfolgsgeschichte erzählt. Sie erzählt als Teil ihrer selbst die Geschichten von Hiob, vom krähenden Hahn des Petrus, vom Unglauben vor Emmaus, von den zerbrechlichen Gefäßen des Glaubens. Deshalb hat die gute Religion immer das Gebet im Zentrum- das Gebet, in dem sie sich selbst ganz der Hoffnung anheim gibt- das Gebet, das uns über uns hinaus ins Weite führt- das Gebet, das uns in Einsamkeit und Not rettet.

4. So rührt die heutige Lesung aus dem Buch Ester auch an den Kern der guten Religion. Es führt Ester "in Todesangst ergriffen" hinaus ins Weite. Wie mit letzter Kraft wirft das Gebet die ganze Person auf IHN: "Herr, unser König, du bist der einzige. Hilf mir! Denn ich bin allein und habe keinen Helfer außer Dir ..." – Gibt es noch etwas hinzuzufügen, gibt es am Ende wirklich noch mehr zu sagen? Dieses Gebet ist völlig ungeschützt, es verfügt über keine Nischen und Notausausgänge der Argumentationen.

Diese allereinfachsten Gebetsworte werden als einzige am Ende, dem Schlusspunkt und verzweifelten Ausrufezeichen des Gebets durch Ester noch einmal wiederholt- sie sind der Kern des Gebets: "Hilf mir, denn ich bin allein und habe niemand außer Dir, o Herr!"

Ich bin allein, ich habe niemanden? So betet das Gebet der Ester mit denen, die allein sind: mit den Ungeborenen, mit den Sterbenden, mit den Verhungerten und Trauernden, mit den Vertriebenen und Asylsuchenden. Nicht zu unserer Beruhigung, sondern um der Verzweifelten willen halten wir daran fest: Ohne solches Beten würde etwas fehlen in der Welt. Ohne solches Beten gäbe es keine gute Religion.

Lesung: Ester 4, 17k–t