Impuls vom 09.12.2016

Staunen

Das Evangelium ... rückt die Gestalt Marias ins Licht. Wir sehen sie, wie sie, unmittelbar nachdem sie den Sohn Gottes im Glauben empfangen hatte, eine lange Reise von Nazaret in Galiläa ins Bergland von Judäa auf sich nimmt, um Elisabet zu besuchen und ihr zu helfen. Der Engel Gabriel hatte ihr offenbart, dass ihre ältere Verwandte, die keine Kinder hatte, im sechsten Monat schwanger war (vgl. Lk, 1,26.36). Aus diesem Grund macht sich die Gottesmutter, die ein noch größeres Geschenk und Geheimnis in sich trägt, auf den Weg zu Elisabet und bleibt drei Monate bei ihr. Bei der Begegnung der beiden Frauen – stellt es euch vor: eine betagte Frau und die andere, eine junge – ist es die junge Maria, die zuerst grüßt. Im Evangelium heißt es: »Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet« (Lk 1,40). Und nach diesem Gruß fühlte sich Elisabet von einem großen Staunen erfasst – vergesst dieses Wort nicht: Staunen. Das Staunen. Elisabet fühlt sich von großem Staunen erfasst, was in ihren Worten erklingt: »Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?« (V. 43). Und sie umarmen sich, sie küssen sich freudig zur Begrüßung, diese beiden Frauen: die alte und die junge, beide ein Kind erwartend.

Um Weihnachten fruchtbringend zu feiern, sind wir aufgerufen, an den »Orten« des Staunens innezuhalten. Aber wo befinden sich diese Orte des Staunens im täglichen Leben? Es sind drei. Der erste Ort ist der Andere, in dem ein Bruder, eine Schwester zu erkennen ist, denn seit dem Ereignis der Geburt Jesu ist jedem Antlitz die Ebenbildlichkeit mit dem Sohn Gottes eingeprägt. Vor allem wenn es das Antlitz des Armen ist, da Gott als Armer in die Welt gekommen ist und vor allem auf die Armen zugegangen ist.

Ein weiterer Ort des Staunens – der zweite –, an dem wir mit glaubensvollem Blick das Staunen erfahren, ist die Geschichte. Oftmals meinen wir, sie in der rechten Weise zu sehen, und stattdessen laufen wir Gefahr, sie auf den Kopf gestellt zu lesen. Dazu kommt es zum Beispiel, wenn sie uns von der Marktwirtschaft bestimmt, vom Finanzwesen und den Geschäften gesteuert, von den Mächtigen des Moments beherrscht zu sein scheint. Der Gott der Weihnacht ist dagegen ein Gott, der »die Karten neu mischt«: das macht er gern! Wie Maria im Magnificat sagt, ist es der Herr, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, der die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt (vgl. Lk 1,52-53). Das ist das zweite Staunen, das Staunen über die Geschichte.

Ein dritter Ort des Staunens ist die Kirche: auf sie mit dem Staunen des Glaubens zu blicken heißt, sich nicht darauf zu beschränken, sie allein als religiöse Institution zu betrachten, die sie ist, sondern sie als eine Mutter zu empfinden, die trotz aller Flecken und Falten – davon haben wir viele! – die Züge der von Christus, dem Herrn, geliebten und geläuterten Braut durchscheinen lässt. Eine Kirche, welche die vielen Zeichen der treuen Liebe zu erkennen vermag, die Gott ihr beständig schickt. Eine Kirche, für die Jesus, der Herr, nie ein eifersüchtig zu verteidigender Besitz sein wird: Wer das tut, begeht einen Fehler. Er ist vielmehr jener, der ihr entgegenkommt und den sie voll Vertrauen und Freude zu erwarten weiß, und so verleiht sie der Hoffnung der Welt ihre Stimme. Die Kirche, die den Herrn anruft: »Komm, Herr Jesus!« Die Mutter Kirche, die die Türen stets weit offen und die Arme ausgebreitet hält, um alle aufzunehmen. Besser noch: die Mutter Kirche, die aus ihren Türen hinausgeht, um mit dem Lächeln einer Mutter alle Fernstehenden zu suchen und sie zur Barmherzigkeit Gottes zu führen. Das ist das Staunen von Weihnachten!

An Weihnachten schenkt Gott sich uns ganz, indem er seinen Sohn schenkt, den Einen, der seine ganze Freude ist. Und nur mit dem Herz Marias, der demütigen und armen Tochter Zions, die zur Mutter des Sohnes des Höchsten geworden ist, ist es möglich, zu frohlocken und sich über das große Geschenk Gottes und seine unvorhersehbare Überraschung zu freuen. Sie helfe uns, das Staunen – dieses dreifache Staunen: über den Anderen, die Geschichte und die Kirche – über die Geburt Jesu wahrzunehmen, das Geschenk der Geschenke, das unverdiente Geschenk, das uns das Heil bringt. Die Begegnung mit Jesus wird auch uns dieses große Staunen verspüren lassen. Doch wir können dieses Staunen nicht haben, wir können Jesus nicht begegnen, wenn wir ihm nicht in den anderen, in der Geschichte und in der Kirche begegnen.

(Papst Franziskus)