Impuls vom 11.03.2017

Erinnerung heilen - Jesus Christus bezeugen

Dialogpredigt
von Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
und Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
anlässlich des Ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdienstes am 11. März 2017 in St. Michaelis in Hildesheim

"Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen"


Kardinal Marx: Liebe Schwestern und Brüder, woher kommen wir als Christen? Lieber Bruder, woher kommen wir? Wir kommen aus einer langen Geschichte – einer Geschichte, die belastet, die inspiriert, die in die Zukunft weist. Wir dürfen nichts ausblenden – was auch geschehen ist. Auch nicht das, was uns miteinander verstört, bis heute. Der Evangelist Matthäus sagt, dass wir immer wieder vergeben sollen: "nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal". Das heißt eigentlich unbegrenzt. Wir sind stets darauf angewiesen, dass uns vergeben wird. Und wir sind alle immer wieder in der Situation, dass wir einander vergeben müssen und können. Ich bin so froh, dass wir heute miteinander ein Zeichen setzen. Wir nehmen unsere Geschichte an, schauen auf das, was wir uns gegenseitig angetan haben, und gehen gemeinsam voran. Wir tun das nicht anklagend oder in einer Haltung der Depression, sondern in einer Haltung der Heilung und des neuen Aufbruchs. Dafür bin ich dankbar.

Landesbischof Bedford-Strohm: Wir haben die Vergangenheit in der Sperre hier in dieser Kirche liegen sehen. Wir haben gesehen, was uns voneinander getrennt hat. Wir haben die Hürden gespürt, die von uns wechselseitig aufgebaut worden sind. Und wir haben eben einen sehr bewegenden Moment erlebt. Wir haben erlebt, was wir im Herzen seit längerer Zeit zunehmend fühlen: Es gibt einen Weg heraus aus den Sperren, es gibt Wege, die Trennungen zu überwinden. Und wir haben gesehen, was der Schlüssel dafür ist: Aus der Sperre ist ein Kreuz geworden. Die Sperre ist weggeräumt und ein Weg nach vorne möglich geworden. Jetzt steht hier das Kreuz. Seine Balken zeigen in alle Richtungen. Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten schauen auf Christus. Sie kommen um Christus herum zusammen. Wir haben das Kreuz aufgerichtet. Es gibt uns Orientierung und wir sagen an diesem Tag: Wir wollen jetzt nicht mehr auf das schauen, was uns trennt. Trotz aller Wunden, aber auch mit all den Wunden, die wir einander zugefügt haben, wollen wir auf dieses Kreuz schauen, das den Weg in die Zukunft weist. Das Kreuz führt uns zusammen. Christus führt uns zusammen. Das Reformationsgedenken soll ein neuer Anfang sein für einen Weg, der uns als Kirchen nicht mehr voneinander trennt, sondern zusammenführt.

Kardinal Marx: Und deswegen kann man sagen, liebe Schwestern und Brüder: Es ist ein Tag der Freude! Mitten in der Passionszeit wollen wir eine Heilung der Erinnerung erfahren, aber der Grundton unserer Begegnung ist die Freude darüber, dass wir gemeinsam den Namen Jesu Christi tragen. Er inspiriert uns. Wir sehen, dass sein Kreuz in alle Richtungen weist, die ganze kosmische Wirklichkeit darstellt – Norden, Osten, Süden, Westen. Das ganze Haus der Schöpfung soll geheilt werden im Blick auf den gekreuzigten Jesus von Nazareth, der die Liebe Gottes für uns sichtbar macht. Das wollen wir miteinander bezeugen. Ich finde es deshalb großartig, dass die evangelische Kirche uns als katholische Christen eingeladen hat, damit wir uns gemeinsam in diesem Jahr auf den Weg machen und sagen: Wozu sind wir überhaupt Kirche in diesem Land? Wir sind Kirche, um das Kreuz Christi zu verkünden, in dem unser Heil ist. Das ist das Zeichen unseres Glaubens, das Zeichen der Rettung, das Zeichen der großen Hoffnung, dass wir nicht allein sind, dass Gott mit uns geht und dass er uns den Himmel, also den Zugang zum unzerstörbaren Leben eröffnet. Wir haben einen Auftrag, diese frohe Botschaft allen Menschen kundzutun. Töricht wären wir, wenn wir das gegeneinander tun würden oder in Konkurrenz. Ganz im Gegenteil: Nur gemeinsam können wir es tun. Ich wünsche mir, dass wir sagen können: Die Christen in unserem Land bekommt man nicht mehr auseinander, sondern sie stehen im Zeichen des Kreuzes nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen und besonders für die, die ohne Hoffnung sind.

Landesbischof Bedford-Strohm: Und wir als Evangelische freuen uns von Herzen darüber, dass Ihr als unsere katholischen Schwestern und Brüder dieses Jahr mit uns zusammen begeht, mit uns gedenkt, mit uns feiert – und den feiert, um den allein es Martin Luther selbst gegangen ist, nämlich Christus. Deswegen feiern wir das Reformationsjahr als großes Christus-Fest. Wir wollen in der Zukunft nicht mehr getrennt glauben, wir wollen gemeinsam glauben. Gemeinsam glauben wir an den, von dem wir alle miteinander herkommen und von dem her wir uns verstehen. Und der uns hoffentlich auch wieder zum gemeinsamen Mahl an seinem Tisch führen wird. Wir wollen Zeugen Jesu Christi sein in dieser Welt, in der viele Menschen vom Evangelium nichts mehr wissen. Wir wollen ausstrahlen, wovon wir sprechen. Wir wollen aus der Liebe Gottes leben und wir wollen die Liebe Gottes weitergeben an alle Menschen. Deswegen setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Flüchtlinge menschenwürdig behandelt werden. Deswegen setzen wir uns gemeinsamdafür ein, dass Menschen Wege aus der Armut finden. Deswegen setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass wir die Natur als Schöpfung Gottes verstehen und deswegen sorgsam mit ihr umgehen. Deswegen setzen wir uns gemeinsam ein für die Überwindung von Gewalt, für Wege der Versöhnung zwischen Menschen, damit das Leid und der Tod und die Gewalt endlich ein Ende haben. Wir wollen diesen Weg gemeinsam gehen. Wir wollen Freundinnen und Freunde in Christus sein.

Kardinal Marx: Du hast das gesagt, was auch mich bewegt und was uns alle bewegt. Manchmal wird ja gefragt: Fehlt etwas, wenn Christus nicht verkündet wird in dieser Gesellschaft? Dann frage ich mich: Wer könnte die Verkündiger des Evangeliums, was könnte die Verkündigung des Evangeliums in dieser Gesellschaft ersetzen? Gibt es eine stärkere Botschaft, gerade im Blick auf die Armen und Schwachen, aber auch auf die Hoffnung für alle Menschen angesichts des Todes, der Gewalt, der Sünde, der Verstrickung? Die Christen verkünden einen Gott, der sich in unendlicher Liebe verschenkt und uns Wege der Heilung und der Versöhnung zeigt. Deshalb können wir siebzigmal siebenmal vergeben. Wir könnten uns unsere Gesellschaft gar nicht ohne dieses Evangelium vorstellen. Aber das ist eben unsere gemeinsame Aufgabe. Wir sollen nicht jammern, wir sollen nicht andere anklagen, sondern wir sollen uns selber auf den Weg machen. Deshalb ist das Reformationsjahr eine Chance, im Miteinander das Evangelium in unserer Gesellschaft neu zur Sprache zu bringen. Ich fühle mich dadurch sehr ermutigt.

Landesbischof Bedford-Strohm: Und wenn alle, die heute hier dabei sind, und auch alle, die heute zuschauen und zuhören, sich gemeinsam verpflichten, die Kraft der Liebe Gottes in unserem Leben zu bezeugen und sie selbst auszustrahlen, dann können wir diese Gesellschaft erneuern. Dann können wir den Glauben und die Liebe neu in die Welt hineintragen.

Kardinal Marx: Was kann man denn heute von den Kirchen erwarten? Auf diese Frage sagte mir kürzlich ein Politiker, der selbst nicht religiös ist: "Ich erwarte von den Kirchen, dass sie Hoffnung geben." Und das sollten wir miteinander tun.

Landesbischof Bedford-Strohm: Ja, dieser Tag heute ist ein Tag der Freude und ein Tag der Hoffnung!

Gemeinsam: Amen.