Impuls vom 16.04.2017

Wach auf, du Schläfer!

Wie sind Sie heute morgen aufgestanden? Oder sollte ich besser sagen: heute Nacht? - Ich bin ja ein überzeugter Anhänger davon, dass die Osternacht am einzig richtigen Zeitpunkt dafür gefeiert werden soll: am Sonntagmorgen, der aufgehenden Sonne entgegen. Aber einmal im Jahr bin nahe dran, meine Entscheidung zutiefst zu bereuen: dann nämlich, wenn – wie vorhin – um drei der Wecker klingelt. Es gibt ja Nächte, nach denen man froh ist, aufstehen zu dürfen. Aber meistens fällt es mir eher schwer – und nicht nur am Ostersonntag, und gewiss nicht mir allein. Es ist, als würden noch Bleigewichte an den Gliedern hängen – und mehr noch an den Gedanken. Warum ist das so?

Vielleicht liegt das nicht nur an der eigenen Trägheit, sondern – wie der Philosoph Wilhelm Schmid einmal gesagt hat – auch daran, weil wir beim Aufwachen aus einer anderen Welt kommen: aus der Welt der Möglichkeiten, die unendlich groß und weit ist – so reich wie die Träume, die uns Nacht für Nacht dorthin entführen. Und jeden Morgen fallen wir zurück in die Welt der Wirklichkeit. Kein Wunder, dass Kopf und Herz dafür eine Weile brauchen: Während wir geistig und seelisch noch in jener Welt sind, in der prinzipiell alles möglich ist, müssen wir zurück zu dem, was ist. Und da sind die Möglichkeiten doch sehr viel begrenzter, die Spielräume enger, die Gleise, in denen wir uns bewegen können, ziemlich festgelegt. Darum sind Aufwachen und Aufstehen ein so sensibler Punkt im Tagesablauf: Sie liegen sozusagen genau an der Schnittstelle zweier sehr verschiedener Welten.

Von daher kann man es gut verstehen, dass die ersten Christen für das, was sie nach der Katastrophe des Karfreitags erlebt hatten, das Wort "aufstehen" verwendeten. Bei uns im Deutschen fügen wir, um die Dinge genauer zu unterscheiden, noch eine Silbe ein und sprechen von auf-er-stehen. Aber es bleibt das gleiche Bild, denn nur in Bildern und Metaphern konnte (und kann) man von dieser so total neuen, unerhörten Erfahrung sprechen. Auferstehung heißt ja nicht, dass ein Leichnam wieder die Augen aufmacht, sich wie im Bett aufrichtet und ins vorherige Leben zurückkehrt. Auferstehung ist "die Kernspaltung im Innersten des Seins", sagt im höchsten Ton der Theologie Benedikt XVI. – ihn sollte man heute, an seinem 90sten Geburtstag, ja schon zitieren. "Eine neue Dimension hat sich für den Menschen aufgetan. Die Schöpfung ist größer und weiter geworden."

Das wäre dann – nach Wilhelm Schmid – ein Aufstehen in genau die umgekehrte Richtung: "von der Wirklichkeit zurück in das Reich der Möglichkeiten, der göttliche Weg zu einem neuen und anderen Leben". Und genau das ist vermutlich der Grund, warum Ostern – anders als Weihnachten – die meisten unserer Zeitgenossen (wenn man den Umfragen trauen darf) nicht wirklich berührt. Die konkrete Realität ist für uns reich genug, sie fordert uns auch genug. Was bringt es, über sie hinaus zu fragen, hinaus zu hoffen? Und hat es nicht den Anschein, dass auch die Kirchen, auch die Christen, auch ich selbst, ganz zufrieden sind mit dem, "was ist" und wie es halt läuft – und eine "weitere Welt" und "größere Möglichkeiten" gar nicht brauchen? - Was aber bleibt dann von Ostern – außer ein bisschen Speisenweihe und Folklore und vielleicht der egoistischen Hoffnung, mit dem eigenen, recht angenehmen Leben möge es doch bitte ewig weitergehen?

Manchmal, liebe Schwestern und Brüder, möchte man der Christenheit zurufen, was in der Heiligen Schrift im Epheserbrief steht: "Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein." (Eph 5,14)
Das beginnt schon damit, wenn Sie mir dieses überaus primitive Beispiel verzeihen, dass für viele bei uns bereits die wohlige Bequemlichkeit des Sonntagmorgens eine unüberwindliche Hürde darstellt. In anderen Ländern – siehe die Attentate in Ägypten – müssen unsere Schwestern und Brüder damit rechnen, für ihr sonntägliches Bekenntnis zum Gekreuzigten und Auferstandenen nicht nur diskriminiert, sondern womöglich von Fanatikern in die Luft gesprengt zu werden. - Was ist uns der Glaube wert?
Vor einiger Zeit hat mir ein Geisenfelder sehr massiv mitgeteilt, er erwarte von der Kirche und speziell vom Pfarrer, endlich massiv gegen den Islam aufzutreten und unsere christlichen Werte zu verteidigen. Allerdings ist mir, ehrlich gesagt, bisher nie aufgefallen, dass dieser Mann am Christentum irgendein Interesse gezeigt hätte, er hat sich sogar – wie so viele – ziemlich abfällig über das geäußert, was anderen heilig ist.
Und darum, liebe Christin, lieber Christ: "Wach auf, du Schläfer, und steh auf ...", steh auf gegen die Tendenz, den Glauben für ganz andere Zwecke zu instrumentalisieren. Steh auf, damit Ostern nicht zur Folklore vorkommt und die Wirklichkeit meines Lebens nicht verändert.

Denn wenn man Ostern ernst nimmt, verändert es meine Wirklichkeit total. Meine Welt wird tatsächlich größer und weiter – und freier. Ich muss nicht mehr Angst haben, ich könnte zu kurz kommen. Ich darf die eherne Regel, dass sich letztlich ja doch jeder selbst der Nächste ist, gelassen ignorieren. Ich brauche mich vor Versagen, vor Leiden und Schmerz nicht zu fürchten wie der Teufel vorm Weihwasser. Und ich werde die Vergänglichkeit von allem und meinen eigenen Tod nicht verdrängen. Das alles hängt mir nicht mehr wie Bleigewichte an Kopf und Seele, denn ich weiß: Christus ist auferstanden und ich darf auch auferstehen – und deshalb aufstehen! Und darum steht für uns alle an der Schnittstelle von dem, was ist, und dem, was sein könnte, die österliche Ermutigung: "Du hast mehr Möglichkeiten, als du ahnst, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten Gottes mit dir!"

"Wach auf, du Schläfer!" Sie dürfen das jetzt ruhig wörtlich nehmen und ihren Nachbarn wieder wach rütteln, denn die Predigt ist zu Ende. Sie dürfen sich das aber auch selbst sagen, an diesem Osterfest und an jedem Morgen, der uns noch geschenkt ist und an dem wir aufstehen dürfen, bis wir einmal ins ewige Ostern gehen: "Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein."