Impuls vom 04.04.2018

Höherentwicklung

Vergangenen Sonntag war ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Friedwald. Alternative Formen der Bestattung sind groß im Kommen, da wollte ich mir das einfach mal anschauen. Es ist wirklich ein ganz normaler Wald. Nur kleine Schilder an manchen Bäumen mit Namen und Lebensdaten und vielleicht einem Spruch verraten, dass an den Wurzeln dieses Baumes die Asche eines Verstorbenen ruht, in biologisch abbaubaren Urnen, wie eine Schautafel stolz verkündet. Grabpflege gibt es keine, die übernimmt die Natur.
Ich muss zugeben, dass ich beeindruckt war. Und mit mir viele andere, denn es wimmelte nur so von Besuchern, was sicher auch dem schönen Wetter am Palmsonntag geschuldet war. Und unweigerlich bekam ich einiges von ihren Gesprächen mit. Eine Familie war offenkundig auf der Suche nach dem Baum, wo vor einem Jahr der Vater und Großvater beerdigt worden war. "Wo ist denn nun der Opa?", fragte ein Bub, und seine Mutter erklärte ihm geduldig, dass der Opa nun überall sei, in diesem Baum und in der Natur, überall, wo es lebendig ist. Da lebt er weiter, sagte sie, das ist der Kreislauf des Lebens. - Und als ich später zum Auto zurückging, sah ich einen Mann, der sein Gesicht in die Frühlingssonne hielt und zu seiner Frau sagte: "Schau, hier ist schon Ostern!"

Die ganze Woche über ist mir das nachgegangen, schließlich musste ich eine Osterpredigt vorbereiten. Kann man vielleicht so heute über diese grundsätzlichste aller Fragen sprechen, über die von Leben und Tod? Ist Ostern nicht sowieso für die meisten das Fest des Frühlings? Geht es nicht schlicht um das unergründliche Geheimnis der Natur mit ihrem ewigen "Stirb und werde"?
Aber ich kann mir nicht helfen: Nein, das reicht mir nicht. Sollte das alles sein, was wir vom Leben zu erwarten haben? Sind wir wirklich nur ein Teil der Natur und nichts weiter?
Es stimmt ja: Gerade jetzt im Frühling (darum warten wir ja so sehnsüchtig auf ihn) ist der Eindruck überwältigend, wenn alles wieder grünt und blüht und das Leben aus allen Poren quillt. Aber an diesem Nachmittag auf dem Friedwald habe ich mir auch gedacht: Die Kräfte der Natur sind doch gegenüber diesen Menschen, die hier begraben sind, völlig kalt und teilnahmslos. Die Natur fragt nicht nach ihnen, sie lässt Gras darüber wachsen (Fr. Kamphaus). Wie sagt der Psalm, der immer auf Beerdigungen gesungen wird, von der Menschenblume: "Fährt der Wind darüber, ist sie dahin- der Ort, wo sie stand weiß von ihr nichts mehr." Die Natur weiß nichts von diesen Menschen, nichts von ihrer Geschichte und ihrem einmaligen Leben, nichts von ihrer Freude und ihrem Leid. Ob Opfer oder Täter, ob ewig Unterdrückter oder Ausbeuter, ob Gekreuzigter oder Mörder: Ihr ist das egal. Schwamm drüber, grünes Gras drüber ...

Ahnen wir von daher, was Ostern heißt? Was es bedeutet zu sagen: Ihn, der so qualvoll ums Leben gebracht wurde, diesen Jesus hat Gott auferweckt. Nicht nur seine "Sache" lebt weiter, weil sich andere Menschen immer wieder von seinen Ideen begeistern und anstecken lassen, sondern er selbst. "Ich lebe", sagt er im Johannesevangelium, "und auch ihr werdet leben."
Lassen Sie es mich mit Worten des Münchner Jesuiten Andreas Batlogg sagen. Der kämpft momentan mit einer schweren Krebserkrankung und geht sehr offen damit um. Vor ein paar Tagen hat er in der Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" geschrieben: "Ich möchte lieber getröstet sterben als ungetröstet. Und ich glaube an die Auferstehung der Toten. Weil ich Jesus glaube, seiner Verheißung. Auch wenn Tausende sagen: Alles nicht wahr, billige Vertröstung! Paulus war sehr direkt, als er den Korinthern ins Stammbuch schrieb: "Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos." Das Unglaubliche glauben (lernen): Das kann ich an Ostern einüben. Deswegen darf die Botschaft von Ostern nicht auf ein paar Frühlingsgefühle reduziert werden. Verniedlicht mit Metaphern aus der Natur vom Vergehen und Wachsen. Auferstehung, aufstehen, Leben nach dem Tod – das Unvorstellbare, für viele das Undenkbare, bekennen Christen als das Zentrum ihres Glaubens. Damit steht und fällt alles. Beweisen kann ich das nicht. Glauben kann und will ich es – weil ich Jesus traue."

Und ist so ein Vertrauen gegen die Natur? Ist die Natur von uns Menschen tatsächlich auf Auflösung im großen Kreislauf des Lebens angelegt? Recht betrachtet läuft doch die biologische Evolution und die kulturelle Entwicklung des Menschen in die genau entgegengesetzte Richtung: nämlich zu immer stärkerer Bewusstheit, zum Freiwerden von bloßen Instinkten und Zwängen, zur Personwerdung – zum immer tieferem Begreifen, dass der Einzelne einmalig und unersetzbar ist. Mit Gerhard Lohfink gesagt: "Die Entwicklung des Menschen läuft doch nicht auf Verlust der Individualität zu, sondern darauf, die anderen als Person zu erkennen und selbst immer tiefer Person zu werden. Der Mensch ist auf Begegnung angelegt. Genau zu diesem Ziel ist er seit Jahrtausenden unterwegs."
Darum kann ich gut nachvollziehen, wenn Joseph Ratzinger die Auferstehung mit einem "radikalen "Mutationssprung"" vergleicht, "in dem sich eine neue Dimension des Lebens, des Menschseins auftut". Der Mensch ist auf Begegnung angelegt: Jetzt in diesem Leben – und in Ewigkeit. Dafür war Ostern der endgültige Durchbruch, der große "Sprung nach vorn".

Von dem wunderbaren Lyriker Andreas Knapp gibt es einen Band mit Naturgedichten, der mit sechs ganz kurzen Zeilen endet, denen er den Titel "Höherentwicklung" gibt. Sollte ich tatsächlich einmal – wer weiß schon, wohin die Entwicklung geht – im Wald und mitten in der Natur beerdigt werden, könnte man mir das auf mein Schildchen schreiben:

höherentwicklung

am anfang
fressen und gefressen werden

am ende aber
geliebt werden und lieben

höher
geht nicht mehr




Nachweise:
Franz Kamphaus, Tastender Glaube, Ostfildern 2016
Christ in der Gegenwart, 70. Jahrgang / 1. April 2018 (Batlogg)
Gerhard Lohfink, Der christliche Glaube erklärt in 50 Briefen, Freiburg 2018
Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth II, Freiburg 2011
Andreas Knapp, Beim Anblick eines Grashalms. Naturgedichte, Würzburg 2017