Impuls vom 31.01.2020

Synodalität im Lichte des Briefes von Papst Franziskus

Liebe Schwestern und Brüder,

mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen kommen wir hier zusammen und beginnen etwas Neues. Es liegt an uns, ob die Synodalversammlung in Zwist und Frust endet oder ob sie unsere Kirche auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung voranbringt. Es ist ein Momentum – wir dürfen es nicht verpassen. Wir kommen in einer tiefen Krise der Kirche zusammen, einer tiefen Krise des Glaubens zugleich. Es gibt viel Skepsis gegenüber dem Synodalen Weg. Es gibt auch Misstrauen. Aber viele Menschen sind voller Hoffnung, voller Ungeduld, voller Erwartung, dass wir uns zusammenfinden, und müssten wir uns auch zusammenraufen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der Glaube an Gott und das Bild unserer Kirche – sie fallen auseinander, aber sie müssen zusammenpassen. Das ist unsere Verantwortung. Es gibt keinen Synodalen Weg ohne die Umkehr und die Erneuerung der Kirche. Wir müssen bei uns selbst anfangen.

Wir haben ein neues Format: die Synodalversammlung. Wir haben vier Themen, auf die sich die Bischofskonferenz und das ZdK verständigt haben. Haben wir auch eine Perspektive, die beides verbindet? Schauen wir auf das Format Synodalversammlung, das es so bislang nicht gegeben hat. In der Apostelgeschichte finde ich drei Szenen, die uns widerspiegeln, was wir besser machen und was wir besser nicht machen sollen. Das erste Szenario beschreibt Lukas so: „Die einen schrien dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war“ (Apg 19,32). So ging es vor zweitausend Jahren zu, im Theater von Ephesus, und hätte fast zu einem Pogrom gegen die junge Gemeinde geführt. So wird es bei uns nicht zugehen. Wir brauchen hier nicht zu schreien und durcheinanderzureden. Aber wissen wir schon ganz genau, weshalb wir zusammengekommen sind? Darüber müssen wir reden.

Das zweite Szenario findet sich in einem Brief aus Jerusalem. Der Anfang dieses Briefes lautet: „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen, …“. Bei aller Liebe, einen solchen Brief zu schreiben, sollten wir uns besser nicht vornehmen. Der Brief, den Lukas zitiert, fasst die Ergebnisse des Apostelkonzils zusammen. Ein Apostelkonzil sind wir nicht, auch kein Partikularkonzil oder eine Provinzialsynode. Es gab und gibt gute Gründe, einen neuen Weg zu gehen, einen Synodalen Weg. Aber auf den Beistand des Heiligen Geistes dürfen wir durchaus vertrauen. Und Beschlüsse werden wir fassen. Sie können nicht unverbindlich sein.

Eine dritte Szene aus der Apostelgeschichte zeigt uns, wo wir ansetzen können. Sie spielt beim Übergang der Mission nach Europa. Paulus hat einen Traum: „Komm herüber und hilf uns“, hört er einen Menschen sagen (Apg 16,9). Auf den folgenden Satz kommt es mir an: „Als er das Gesicht geschaut hatte, wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir kamen zu dem Schluss, dass uns Gott gerufen hatte, ihnen das Evangelium zu verkünden“ (Apg 16,10). Entscheidend ist die Verkündigung des Evangeliums, auch für uns. Um sie voranzubringen, wird kein einsamer Beschluss gefasst, sondern ein gemeinsamer, auch bei uns. Es wird auch nicht einfach losgezogen, sondern zuerst überlegt, ob die Vision eine Einbildung oder eine Offenbarung ist, auch bei uns gilt: erst denken und beten, dann reden, dann machen.

Der Synodale Weg ist ein Prozess, und die Synodalversammlung ist sein stärkstes Antriebsaggregat. Nur weil diese neue Form gefunden worden ist, kann es einen Dialog auf Augenhöhe geben. Wir brauchen Diskussionen, in denen ohne Tabus alle Probleme auf den Tisch kommen, die unter den Nägeln brennen. Wir brauchen Beschlüsse, die konkrete Reformprojekte auf den Weg bringen. Wir brauchen die Beteiligung möglichst vieler in unserer Kirche, wir brauchen ökumenische Solidarität, wir brauchen die Begleitung unserer katholischen Nachbarschaft und unserer Schwesterkirchen weltweit. Wir brauchen die kritische Öffentlichkeit, an der Schnittstelle die Medien.

Bei welcher Aufgabe? „Macht und Gewaltenteilung“, „Priesterliche Existenz“, „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“, „Leben in gelingenden Beziehungen“ – man könnte tausend weitere Themen nennen. Aber mit diesen vier soll angefangen werden. Alle sind Hotspots. Sie fordern uns, weil sie uns mit Ungerechtigkeit und Missbrauch in der Kirche konfrontieren, mit innerkirchlichen Spannungen und öffentlicher Kirchenkritik, die nicht abgetan werden kann. Keines dieser Themen treibt nur Deutschland um. Keines kann top down abgearbeitet werden. Jedes ist ein Schlüsselthema für die Umkehr und Erneuerung der Kirche. Jedes wird unter den Gläubigen breit diskutiert – oder auch nicht mehr, weil sich so lange nichts geändert hat und angeblich nie etwas ändern werde. Jedes Thema hilft uns, den Glauben in der Welt von heute zu verorten. Welche Chance liegt in einem neuen Miteinander von Priestern und Laien, von Männern und Frauen, von Lehre und Leben! Wir werden in der Synodalversammlung nicht alle Probleme der katholischen Kirche lösen. Aber wir müssen dort anpacken, wo man sich die Finger verbrennen kann.
Haben wir die richtige Perspektive, um die Themen auf unserem Weg voranzubringen? Papst Franziskus hilft uns, die Augen zu öffnen. Gleich zu Anfang des Briefes, den er im letzten Sommer an Peter und Paul an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland gesandt hat, steht der entscheidende Hinweis: Papst Franziskus erklärt, er wolle uns „zu einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation ermuntern“. Stärker hätte die Unterstützung für den Synodalen Weg kaum ausfallen können. Kein Verbot, kein Tabu, keine Direktive, sondern ein starker Impuls. „Freimütig“ heißt: offen und ehrlich, ohne Angst, mit Zuversicht und Gottvertrauen. „Gegenwärtig“ heißt: nicht nostalgisch, nicht utopisch, sondern realistisch. Wir sollen uns auf unsere „Situation“ in Deutschland beziehen; diese Situation ist ernst – nicht nur wegen des sexuellen und geistlichen Missbrauchs, auch wegen des schleichenden Auszugs allzu vieler, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen. Wir sollen eine „Antwort“ geben, also uns anfragen lassen – von den Betroffenen des Missbrauchs, von den Leuten von heute innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche, von denen, die an der Kirche leiden, weil sie ihnen eine Herzensangelegenheit ist, und von denen, die mehr von der Kirche erwarten: mehr Gott, mehr Glaube, mehr Liebe und Hoffnung, mehr Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

Der Brief des Papstes speist uns aber nicht mit ein paar lobenden Floskeln ab. Er traut uns zu, Kritik zu vertragen. Er spricht von „Versuchungen“, denen wir ausgesetzt sind: Er warnt uns davor, „an vorgefassten Schemata und Mechanismen“ festzuhalten (Nr. 4); er warnt uns vor einem Rückzug in „Resignation“ (Nr. 5); er warnt uns davor, nur über „Strukturen, Organisationen und Verwaltung“ (Nr. 5) zu reden; vor allem warnt er uns davor, auf die Herausforderungen der Gegenwart nur zu reagieren (Nr. 6) und nicht proaktiv tätig zu werden, innovativ, kreativ.

Und wie, denkt der Papst, können wir die Versuchungen bestehen und die richtigen Antworten finden? Drei Hinweise vor allem enthält sein Brief. Erster Hinweis: Der Synodale Weg muss ein geistlicher Prozess sein. Die geistliche Dimension steht keineswegs im Widerspruch zu den strukturellen Herausforderungen, die wir zu meistern haben. Sie betrifft auch nicht nur die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, vor allem, wenn Konflikte ausgetragen werden. Die geistliche Dimension öffnet sich uns dann, wenn wir das Wirken des Heiligen Geistes nicht in ferner Vergangenheit oder ferner Zukunft vermuten, sondern hier und jetzt erkennen: in unseren Krisen, in unseren Hoffnungen und Befürchtungen, in unseren Brüchen und Aufbrüchen. Wenn wir nach dem Wirken des Geistes fragen, müssen wir dann etwa nicht nach mehr Teilhabe der engagierten Gläubigen fragen, nach überzeugenden Priesterbildern, nach stärkeren Rollen von Frauen, nach lebensnaher Sexualethik?

Zweiter Hinweis: Der Synodale Weg braucht einen sensus ecclesiae, einen Sinn für die Kirche als Ganze. Was heißt das? Zum einen heißt es im Sinn des Papstes: kein deutscher Sonderweg, aber auch kein Gleichmarsch römischer Truppen auf der ganzen Erde. Es gibt sehr viel, was wir hier vor Ort in Deutschland ändern müssen und können. Dann gilt: Sehen, urteilen und handeln. Wenn aber etwas eine weltkirchliche Angelegenheit ist? Dann gilt: sehen, urteilen – und nicht etwa nichts tun, sondern unsere Stimme erheben, die Stimme der katholischen Kirche in Deutschland. Zum anderen heißt kirchlicher Sinn nach der Intention des Papstes: Die Basis muss zu Wort kommen, hier in diesem Raum, aber weit darüber hinaus. Und die Bischöfe werden gefragt, wie sie sich in diesen synodalen Prozess einbringen und wie sie in den Diözesen, die sie leiten, die Beschlüsse umsetzen werden, die diese Versammlung fassen wird. Über Partizipation darf nicht nur gesprochen werden, sie muss praktiziert werden. Das Priesterbild von morgen, es muss sich heute schon abzuzeichnen beginnen. Das Charisma von Frauen – es braucht heute Strukturen, um wirken zu können. Eine Sexualität, die personal integriert ist – wie viele Menschen würden sich freuen, von der katholischen Kirche nicht mit lauter Verboten konfrontiert, sondern mit dem Evangelium der Gottes- und der Nächstenliebe begleitet zu werden?

Dritter Hinweis, der wichtigste: Im Zentrum all unserer Gespräche, schreibt Franziskus, muss das Evangelium stehen, die Frohe Botschaft selbst. „Das Reich Gottes ist nahegekommen.“ „Jesus ist von den Toten auferstanden.“ „Der Geist ist es, der befreit“ – der Glaube an das Evangelium hat uns hier zusammengeführt. Den Menschen von heute sind wir Rechenschaft schuldig. Es geht keineswegs nur um die Glaubwürdigkeit der Kirche. Es geht um die Vitalität des Gottesglaubens selbst. „Primat der Evangelisierung“ heißt nicht, dass wir zuerst über Verkündigung sprechen und dann einmal weitersehen, sondern dass wir gerade dann auf die Überzeugungskraft des Evangeliums setzen, wenn es Konflikte gibt und echte Veränderungen anstehen: bei der Machtverteilung, bei den Rollen von Priestern, bei den Diensten von Frauen, bei der Sexualmoral. Alles, was sich hier ändert, um die Evangelisierung zu fördern, ist schon Evangelisierung.

Liebe Mitglieder der Synodalversammlung, was wir hier tun macht einige nervös, weil sie befürchten, dass es zu Tumulten kommt oder dass Beschlüsse gefasst werden, die übergriffig sind und die Kirche spalten. Andere haben die Sorge, dass es viel zu ruhig werden könnte und dass sich gar nichts bewegt, weil es an Mut und Energie fehlt, etwas Neues zu wagen. Ich setze mit vielen darauf, dass die Verkündigung des Evangeliums auch heute gefragt ist – in neuen Formen, in neuen Strukturen, in einem neuen Weg. Wir brauchen präzise Detaildiskussionen. Weil unser kirchenrechtlicher Status strittig ist, müssen wir theologisch stark sein. Wir müssen überzeugen. Ich denke, dass wir auch eine programmatische Erklärung brauchen, was uns zusammenbringt, woran wir arbeiten und wohin die Reise gehen soll.

„Komm herüber und hilf uns“, so gefragt zu werden, war damals der Traum des Paulus. Wer fragt heute? Wer fragt schon lange nicht mehr? Von wem lassen wir uns anfragen und helfen? Zu wem machen wir uns auf den Weg? Damals hat sich die Welt verändert. Lesen wir nur ein wenig weiter in der Apostelgeschichte, erkennen wir drei Ausrufezeichen: Der erste Christ Europas ist eine Christin, die Händlerin Lydia aus Philippi. Die erste Tat der Missionare ist die Befreiung einer Sklavin. Die erste Rede, die Paulus in Europa hält, ist ein Plädoyer für das Recht und für die Religionsfreiheit. Alle drei Erinnerungen sind programmatisch. Wenn wir die Impulse aufnehmen, sind wir nicht so weit von unseren Auftaktthemen entfernt. Wir sind mitten in unserer Zeit, mitten in unserer Kirche, mitten in unserer Versammlung.


(Prof. Dr. Thomas Söding am 31.01.2020)