Impuls vom 04.03.2020

Beten üben

Hirtenwort des Limburger Bischofs Georg Bätzing, des neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, zur Fastenzeit 2020

Beten ist menschlich. Seit der Mensch denken kann und um sich selbst weiß, betet er. Zeugnisse dafür finden sich in allen Epochen der Kulturgeschichte. Dass diese Praxis aber auch heute durchaus vernünftig ist, wird längst nicht mehr von allen geteilt – weder im Handeln noch in der Theorie. Manche können nicht beten, weil ihnen die Zumutung des Schicksals die Sprache verschlagen hat. Viele wollen nicht, weil sie grundsätzliche Bedenken hegen. Sie fürchten, das Gebet könne zur Ausflucht werden anstelle von tatkräftigem Einsatz, eine Vertröstung, die Menschen eher lähmt als beflügelt, oder eine psychologische Konstruktion von solchen, die nicht stark genug sind, die Härten des Lebens nüchtern zu ertragen.
Die Welt des Marktes legt Menschen heute den widerständigsten Einwand auf die Lippen, denn sie fragt stets: Was bringt’s? Wer Computerprogramme entwickelt oder im Supermarkt an der Kasse sitzt, wer Aktien verwaltet oder seinem Bürojob nachgeht, denkt der an Gottes Gegenwart? Beten ist nicht produktiv. Am ehesten scheint es angemessen in Grenzsituationen, in Krankheit, Trennung und Einsamkeit.
Aber gebietet da nicht der Glaube selbst einen Einspruch gegen das Beten, weil die Vermutung nahe liegt, dass Gott für menschliche Zwecke gebraucht wird, wenn nur die Not beten lehrt?

BETEN IST EINFACH MENSCHLICH
Wer namens des „modernen“ Menschen gegen die unterwürfige Haltung meint rebellieren zu müssen, die sich in der Praxis des Betens scheinbar äußert, dem gebe ich zu bedenken, wie viel selbstbewusste Größe aus einem Wort der heiligen Mutter Teresa (1910–1997) spricht: „Mein Geheimnis ist einfach: Ich bete.“ Oder wenn der Philosoph Peter Wust (1884–1940) wenige Monate vor seinem Tod auf die Frage von Schülerinnen und Schülern, wie man klug wird, antwortete: Ich kenne einen Schlüssel zur Weisheit, und zwar „nicht die Reflexion, wie Sie es von einem Philosophen vielleicht erwarten möchten, sondern das Gebet. Das Gebet, als letzte Hingabe gefasst, macht still, macht kindlich, macht objektiv. Die großen Dinge des Daseins werden nur den betenden Geistern geschenkt.“
Ich bleibe also dabei: Beten ist urmenschlich. Denn im Gebet bringen wir uns vor Gott, den Grund unseres Daseins. Beten ist menschlich, weil wir keine stummen Diener unseres Schöpfers, sondern fähig dazu sind, mit Gott in Beziehung zu treten und mit ihm zu reden. Denn er spricht uns in seiner Schöpfung auf vielfältige Weise an. Beten ist menschlich, so wie es menschlich ist zu lieben und zu vertrauen – auch wenn viele es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht können. Die einzige, freilich entscheidende Voraussetzung besteht darin, an Gottes Gegenwart und Fürsorge zu glauben.
Dass ein Christ, eine Christin betet, ist genauso einsichtig, wie wenn ein Pianist Klavier spielt oder ein Maler an die Staffelei tritt. Glauben und Beten gehören zusammen. Eins ist ohne das andere undenkbar. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Als ich im vergangenen Jahr bei der Fragerunde nach einem Vortrag meine Überzeugung äußerte: „Niemand möge von sich sagen, er sei ein Christ, wenn er nicht jeden Tag wenigstens für kurze Zeit betet“, da reagierten die Zuhörerinnen und Zuhörer doch etwas irritiert, aber unser Austausch wurde anschließend überaus lebendig. Christen und Christinnen beten – aber wir müssen es auch lernen, denn es fällt einem nicht einfach in den Schoß. Wie bei anderen wichtigen Dingen im Leben gilt auch hier: Übung macht den Meister! Übung gehört dazu – und aus der sind viele
Gläubige mittlerweile gekommen, seitdem die täglichen Gebetszeiten am Morgen und Abend, bei Tisch und vor der Arbeit an Selbstverständlichkeit eingebüßt haben. Ich kann daher gut nachvollziehen, wenn Stimmen lauter werden und fragen: Ich möchte ja beten, aber wie geht das eigentlich? Kann man beten lernen?

FASTENZEIT IST ÜBUNGSZEIT
Alle, die solche oder ähnliche Gedanken kennen, möchte ich in dieser Fastenzeit dazu einladen, sich im persönlichen und gemeinschaftlichen Beten zu üben. Mit meinem heutigen Wort an Sie alle, liebe Schwestern und Brüder, will ich sozusagen nur eine Fährte legen. Wer sich interessiert zeigt, dem biete ich in den kommenden Wochen bis Ostern sechs weitere Impulse an, um sich mit wichtigen Aspekten des christlichen Betens vertraut zu machen. Dabei orientiere ich mich an Erfahrungen des 1996 verstorbenen geistlichen Lehrers Henri Nouwen (1932–1996). Durch seine Schriften hat der niederländische Priester und Psychologe großes Ansehen gewonnen. Seine Veröffentlichungen spiegeln nicht zuletzt eigene spirituelle Erfahrungen des Theologieprofessors wider, der im Sommer 1985 die berühmte Harvard-Universität in den USA verließ, um sich der Bewegung „Arche“ anzuschließen, einer ökumenischen Lebensgemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung. Was dort zählt, sind echte Beziehungen, wahre Freundschaft und verlässliches Zur-Stelle-Sein. Die Menschen mit Behinderung wurden für Henri Nouwen zu Lehrern. Er lernte, dass Sein wichtiger ist als Tun. Und das hat auch sein Beten auf eine ganz neue Weise geprägt.
Er schreibt: „Ich glaube fest, dass die Taufe im Jordan, bei der Jesus die Bestätigung vernahm: ,Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden‘ (Markusevangelium 1, 10f.), der zentrale Augenblick in seinem öffentlichen Leben ist. Es ist die zentrale Erfahrung Jesu. Er wird zutiefst daran erinnert, wer er ist. Die Versuchungen in der Wüste zielen darauf ab, ihn von dieser geistlichen Identität abzubringen. Er wurde in Versuchung geführt zu glauben, er sei jemand anders: Du bist der, der Steine in Brot verwandeln kann. Du bist der, der sich vom Tempel hinabstürzen kann. Du bist der, vor dessen Macht sich andere beugen. Jesus erwiderte: ,Nein, nein und nochmals nein! Ich bin der von Gott Geliebte.‘
Ich meine, das ganze Leben Jesu ist ein ständiges Inanspruchnehmen dieser Identität inmitten allem, was geschieht. Da gibt es Zeiten, in denen ihm zugejubelt wird, und Zeiten, in denen er Verachtung oder Ablehnung erfährt. Aber er bleibt fest und sagt: Andere werden mich allein lassen, aber mein Vater lässt mich nicht allein. Ich bin der geliebte Sohn Gottes. Somit ist das Gebet das Hören auf die Stimme dessen, der uns Geliebte(r) nennt. Es ist die ständige Wiederkehr zu der Wahrheit, wer wir sind, und die Inanspruchnahme dieser Wahrheit durch uns. Ich bin nicht, was ich leiste. Ich bin nicht, was die Leute von mir halten. Ich bin nicht, was ich habe. Wenngleich nichts Unrechtes daran ist, Erfolg zu haben, berühmt zu sein, Macht zu besitzen, ist unsere geistliche Identität letztlich nicht in der Welt verwurzelt, in dem, was die Welt mir gibt. Mein Leben ist in meiner geistlichen Identität verwurzelt. Was auch immer wir tun: Wir müssen regelmäßig an diesen Ort der wesentlichen Identität zurückkehren.“
(Henri J. M. Nouwen, Dem vertrauen, der mich hält. Das Gebet ins Leben nehmen, hrsg. von Wendy Wilson Greer, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, 3. Auflage 2007, S. 66)

WIE FANGE ICH AN?
Liebe Schwestern und Brüder, genau wie bei anderen wichtigen Dingen im Leben ist es auch beim Beten entscheidend, wie und wo ich anfange. Christliches Beten ist keine Technik. Es ist die ganz persönliche und unsere gemeinsame (kirchliche) Antwort auf die grundlegende Gotteserfahrung, die Jesus gebracht hat. Wollten wir das Gebet als ein Mittel
ansehen, uns etwa aus geistlicher Trägheit und Müdigkeit zu befreien oder – wie man heute gern sagt „unsere Akkus wieder aufzuladen“, wir würden es zu einer Methode degradieren. Das aber wird dem inneren Wesen des Gebetes nicht gerecht.
„Wo ist der Anfang des Gebetes?“, fragte ein Meister seine Schüler. Die nahe liegenden Antworten kennen wir: In der Not, denn da wende ich mich wie von selbst an Gott. In Freude und Dank, denn da bricht die Seele aus dem engen Haus meiner Ängste und Sorgen hervor und schwingt sich zu Gott auf. In der Stille, denn wenn ich den Mund halte, kann Gott sprechen. Der Lehrer antwortete: „Ihr habt alle gut geantwortet. Aber es gibt noch einen Anfang, und der ist früher als alle, die ihr genannt habt. Das Gebet fängt bei Gott selbst
an. Er fängt an, nicht wir.“ Dann kann es eigentlich nicht so schwer sein, mit dem Beten anzufangen. Denn der Anfang ist längst gemacht.
Wenn ich bis hierher Ihr Interesse geweckt habe, liebe Schwestern und Brüder, dann freue ich mich, wenn Sie diese Gedanken und die Impulse der kommenden Wochen aufgreifen, mit Ihren eigenen Erfahrungen verbinden und sich darüber miteinander austauschen.



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