Impuls vom 11.02.2011

Kommen wir zur Sache

Walter Kardinal Kasper: Kommen wir zur Sache
Das Memorandum katholischer Theologen zur Krise der Kirche geht auf ein Grundproblem unserer Zeit nicht ein: die Gotteskrise.

Das Memorandum deutschsprachiger katholischer Theologinnen und Theologen unter dem Titel "Ein notwendiger Aufbruch" lässt aufhorchen. Denn kein vernünftiger Mensch, kein wacher Christ wird bestreiten, dass die katholische Kirche in Deutschland einen Aufbruch bitter nötig hat und dass die Dinge nicht einfach so weitergehen können, wie sie sich im Augenblick darstellen. Niemand kann auch ernsthaft bestreiten, dass den Lehrerinnen und Lehrern der Theologie in dieser Situation eine besondere Verantwortung zukommt und dass sie sich in der Krise zu Wort melden können und sollen.

Als einer, der selbst fast dreißig Jahre lang im akademischen Dienst tätig war und der diesem wichtigen Dienst mit dem Herzen und mit dem Verstand bis heute verbunden ist, muss ich aber offen sagen, dass mich das Memorandum maßlos enttäuscht hat. Es hat mich deshalb enttäuscht, weil ich mir von Theologen mehr erwartet hätte, nämlich einen substantiellen theologischen Beitrag. Den brauchen wir, aber den finde ich in dem Memorandum nicht.

Ich frage mich, wie man als Theologe - das heißt als Wissenschaftler, der rational verantwortet von Gott reden soll - von der gegenwärtigen Situation und ihren Nöten sprechen kann, ohne das zu nennen, was Johann Baptist Metz schon vor Jahrzehnten die Gotteskrise genannt hat. Stattdessen bleibt das Memorandum in einer von ihm selbst zu Recht kritisierten Selbstbeschäftigung stecken. Glauben die Unterzeichner im Ernst, dass die Kirchenverfassung heute eine existentielle Frage der Menschen ist? Ist es nicht eher umgekehrt: dass die Kirchenkrise eine Folge der Gotteskrise ist? Das gilt auch für die schrecklichen und beschämenden Fällen sexuellen Missbrauchs, die nochmals erwähnt werden und die wir gewiss nicht totschweigen dürfen.

Die Unterzeichner fordern mit Recht einen offenen Dialog. Dazu hätte ich gerne ihren theologischen Beitrag gelesen. Doch was sie in ihrem Memorandum in den Dialog einbringen, ist alles längst bekannt und von vielen anderen Gruppierungen schon fast bis zum Überdruss gesagt. Deshalb habe ich aufgehorcht, als eingangs des Textes von der Freiheitsbotschaft des Evangeliums die Rede war. Ich dachte: Ja, das wär"s. Aber was dann folgt, sind Betrachtungen über Menschen- und Freiheitsrechte, die wichtig sind, über die aber in unserer freiheitlichen Gesellschaft auch ohne theologisches Zutun Konsens herrscht. Dass diese Rechte auch in der Kirche gelten müssen, ist für mich selbstverständlich.

Das Evangelium von der Freiheit, wie der Apostel Paulus es verstand, hat aber weit mehr und anderes zu sagen, was gerade heute für den Umgang mit Erfahrung von unverschuldetem Leid, himmelschreiendem Unrecht, Gewalt, Einsamkeit, Schuld und Tod hilfreich wäre. Eine ernsthafte theologische Argumentation, welche von der Freiheit des Evangeliums ausgeht, suche ich in dem Memorandum vergebens.

Mit diesen Einwänden will ich mich nicht vor den konkreten Fragen drücken. Gefordert werden unter anderem verheiratete Priester, Frauen im kirchlichen Amt und die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Das alles sind Anliegen, welche nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in der weltweiten Ökumene lebhaft diskutiert werden. Einige Kirchen haben diese Forderungen längst erfüllt. Als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen habe ich in den vergangenen zehn Jahren reichlich Gelegenheit gehabt, mich in diesen Kirchen umzusehen und über deren Erfahrungen zu sprechen.

Deshalb frage ich mich, wie es sein kann, dass es der deutschen katholischen Theologenschaft offenbar verborgen geblieben ist, dass Kirchen, welche sich für die Frauenordination und für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften entschieden haben, gerade deswegen in einer viel tieferen Krise stecken als die katholische Kirche in Deutschland- viele stehen am Rande der Spaltung oder haben sich bereits gespalten. Und bei aller Freundschaft und Hochachtung vor den evangelischen Kirchen in unserem Land, die alle diese Forderungen gleichfalls längst erfüllt haben, darf man doch fragen, ob sie denn besser dastehen, wenn es um die alles entscheidende Frage geht: die Bezeugung des Glaubens in der Welt von heute.

Der Zölibat ist nicht erst heute ein heißes Eisen. Bekanntlich habe ich mich zusammen mit anderen Theologen vor etwa vierzig Jahren dafür eingesetzt, dass Papst und Bischofskollegium die Verpflichtung der Diözesanpriester zur Ehelosigkeit überprüfen. Offensichtlich weniger bekannt ist die Tatsache, dass diese Überprüfung längst stattgefunden hat. Die Frage ist international exegetisch wie historisch mit Ergebnissen diskutiert worden, die es seriöserweise nicht mehr erlauben, die alten Argumente einfach zu wiederholen. Nicht weniger als drei Weltbischofssynoden haben sich mit dem Thema befasst und jeweils mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung der priesterlichen Ehelosigkeit votiert. Wenn man, wie es zu Recht geschieht, eine andere innerkirchliche Rechtskultur verlangt, dann gehört dazu auch, dass man keine lähmende Dauerdiskussion führt, sondern Entscheidungen auch dann anerkennt, wenn man selbst eine andere Lösung bevorzugt hätte.

Da ich vor meiner Berufung an die römische Kurie zehn Jahre lang Bischof der großen Diözese Rottenburg-Stuttgart war, weiß ich um die Not und um die Erosion vieler Gemeinden. Aber es zeugt von purem Provinzialismus, zu meinen, dieses Problem bestehe nur in Deutschland und es lasse sich auf dem Weg einer deutschen Sonderregelung lösen. Jeder, der schon in westeuropäischen Nachbarländern unterwegs war, von Lateinamerika, Afrika und Asien ganz zu schweigen, weiß ganz anderes zu berichten.

In ganz Europa sind wir Zeugen eines rapiden gesellschaftlichen und demographischen Wandels. Nur ein hoffnungs- und zukunftsloser und damit falscher Konservativismus kann meinen, bisherige Pfarreistrukturen mit "bewährten Männern", die die Priesterweihe empfangen haben (viri probati), künstlich am Leben halten zu können. Allerdings kann die in den deutschen Diözesen praktizierte Lösung mit großflächigen Pfarreieinheiten auch nicht das letzte Wort sein. Es handelt sich um eine Übergangslösung, die die Priester wie die Gemeinden sehr belastet.

Mehr Phantasie und ein Blick über den Tellerrand hinaus könnten weiterhelfen. Zu diskutieren wäre über die Art der theologischen Ausbildung, die dem wirklichen Leben der Kirche weithin entfremdet ist, den Religionsunterricht und den Zustand der Katechese. In Deutschland liegt sie darnieder- in den Vereinigten Staaten und Italien ist das Gegenteil der Fall. Sollten die Deutschen nicht auch dort etwas lernen können? Dieselbe Frage stellt sich im Blick auf die Reform der Seelsorge. In Frankreich gibt es interessante und weiterführende Initiativen. Und wie steht es um das persönliche, von Freude geprägte Glaubenszeugnis - und nicht zuletzt, was man als Theologe ja wohl auch zur Sprache bringen darf, mit dem Gebet?

Damit komme ich zurück auf das theologische Grundproblem, das ich in dem Memorandum so vermisst habe: die Gotteskrise. Der Zölibat lässt sich nur begründen, wenn ich als Priester alles auf die eine Karte Gott und sein Reich setze. In jedem anderen Fall muss man die priesterliche Ehelosigkeit für verrückt erklären. Die Gotteskrise hat jedoch nicht nur zur Zölibatskrise, sondern zu einer Gläubigen- und Gemeindekrise geführt. Wenn in Deutschland der Anteil regelmäßiger Kirchgänger seit 1950 im Schnitt um mehr als zwei Drittel zurückgegangen ist, dann ist das ein Vorgang, der längst aufrütteln müsste und der den wirklichen Grund dessen aufzeigt, was man den Priestermangel nennt. Radikal kann ich nur die Lösung nennen, die an dieser "radix", an dieser Wurzel, ansetzt, und die sich, statt oberflächlich an der Stellschraube Zölibat zu drehen, für eine radikale Erneuerung des Glaubens einsetzt.
Dafür sind wir dringend auch auf theologischen Sachverstand angewiesen. Die theologischen Kolleginnen und Kollegen sind herzlich eingeladen, diesen nach Kräften beizutragen.

(Walter Kardinal Kasper. Er war Bischof von Rottenburg-Stuttgart und von 1991 bis 2010 im Rang eines Kurienkardinals Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen)