Impuls vom 15.03.2011

Menschenwürdig leben. Überall!

Predigt zur Eröffnung der Misereor-Fastenaktion 2011 "Menschenwürdig leben. Überall!" von Bischof Gerhard L. Müller:

"Menschenwürdig leben. Überall!"

Liebe Schwestern und Brüder,

das ist die Leitlinie der Misereor-Fastenaktion 2011.
"MISEREOR super turbam" (Mk 8,2), so spricht Jesus, der Herr und Bruder aller Menschen – Ich habe Mitleid mit meinem Volk, ich habe ein Herz für die Armen.
Gott will, dass die Menschen überall auf dieser Erde in Würde, Gerechtigkeit und Freiheit leben können.
Wenn wir uns aber in den Ländern des Südens und Ostens umschauen, bietet sich uns ein anderes Bild: In Megastädten darunter Lima, Nairobi oder Phnom Penh leben etwa 800 Millionen Menschen – unsere Brüder und Schwestern – unter Bedingungen, die wirklich zum Himmel schreien.

Gott hat seine Schöpfung allen Menschen anvertraut als Haus und Heimat für das irdische Leben. Gemeinsam verfügen wir auch über die geistigen Gaben und materiellen Möglichkeiten, unser Zusammenleben nach dem Maß eines menschenwürdigen Lebens zu gestalten.
Wir werden wohl einer Meinung sein, wenn ich "menschwürdiges Leben" einmal so zu umschreiben versuche: Jeder Mensch braucht ein Dach über dem Kopf. Wichtig ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser, das nicht verunreinigt ist von ekeligem Unrat, den Abwässern aus vergifteten Müllkippen oder der benachbarten Bleimine.

Ebenso entscheidend ist der Schutz vor den Folgen des Raubbaus an der Natur oder der Ausbeutung der Arbeitskraft des Menschen. Unerlässlich ist die Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Arbeitenden mit einer sozialen Absicherung im Fall von Krankheit und Alter. Zusammenfassend kann von einem "menschwürdigen Leben" nur dann die Rede sein, wenn die materiellen Grunderfordernisse gewährleistet sind: Wohnung, Nahrung, Klei-dung und Bildung.

Aber auch das geistige, soziale und religiöse Leben kennt Mindeststandards von sozialem Ausgleich, Selbstbestimmung, Solidarität und Respekt vor der Person eines jeden Mitmenschen. Unsere Forderung vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus ist ganz klar: Das Bestreben der Verantwortlichen in Politik und öffentlichen Leben darf nicht um den eigenen Vorteil und den der eigenen Klientel kreisen, sondern muss sich am Gemeinwohl ausrichten.

Manche sagen: Die Kirche soll die religiösen Bedürfnisse der Menschen befriedigen und vom Trost des ewigen Lebens sprechen, sich aber nicht in die politi-schen und sozialen Dinge einmischen. Das aber ist genau der Vorwurf von reli-gionskritischer Seite, den der Marxismus im 19. Jahrhundert gegen das Christentum erhoben hat. Diese einander entgegen gesetzten Positionen gehen aber beide an der Botschaft Jesu vorbei.

Jesus hat eine ganzheitliche Befreiung gebracht. Er ist der Erlöser und Befreier von Armut, Sünde und Tod. Jesus hat sich der Armen, Kranken und Verstoßenen angenommen. Den barmherzigen Samariter hat er gelobt und den Priester und Leviten nicht deshalb getadelt, weil sie dem von den Räubern halb tot Geschlagenen keine Gebetsbildchen verteilt, sondern weil sie ihn liegen gelassen haben.

In Christus, dem Mensch gewordenen Sohn Gottes, sehen wir Gott selbst. Christus aber begegnet uns in seinem Evangelium und in der Feier seiner Liebe in Gebet und Liturgie. Er begegnet uns ebenso in den Armen und in allen Men-schen, denen ein menschwürdiges Leben verweigert oder geraubt wird.

Christus, der sein Leben für uns geopfert hat und sich uns in der Eucharistie als Speise und Trank zum ewigen Leben schenkt, ist kein anderer als jener, der beim Jüngsten Gericht zu uns sagen wird: Was ihr dem geringsten meiner Brü-der und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan und was ihr ihnen verweigert habt, das habt ihr mir verweigert (vgl. Mt 25,40ff.).

Niemand kann sagen: "Ich liebe Gott", den er nicht sieht, wenn er seinen Bruder in Not, den er sieht, nicht liebt und ihn nicht mit allen Kräften unterstützt (vgl. 1 Joh 4,20). Freilich kann nicht jeder unmittelbar in den armen Ländern der Welt tätig sein. Aber die Projekte, die das Hilfswerk MISEREOR durchführt, können Sie materiell und finanziell mittragen. Damit fördern Sie das Bewusstsein von einer weltweiten Verantwortung der Christen für ein menschwürdiges Leben unserer Brüder und Schwestern im Glauben.

Denn wir alle sind Söhne und Töchter des einen himmlischen Vaters. Wir sind geschaffen nach seinem Bild und Gleichnis. Gott, unser aller Schöpfer und Be-freier, ist Ursprung und Maß eines menschenwürdigen Lebens.