Impuls vom 04.11.2011

Totengedenken

"Die Lyrikerin Mascha Kaléko – 1975 ist sie gestorben – hat eine ganze Reihe von faszinierenden Gedichten hinterlassen. Am meisten mag ich das mit dem Titel "Memento":

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr-
- Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.

"Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr...": Es sind heute Nachmittag wohl so manche unter uns, denen das widerfahren ist und die es bis zum Grund auskosten mussten und müssen, was es heißt, was es kostet: zu leben, wenn er, wenn sie nicht mehr da ist. Gerade in diesem Jahr, seit dem letzten Allerseelentag, gab es in unserer Gemeinde viele schrecklich traurige Todesfälle, zuletzt bei dem Brand am Sonntag vor einer Woche, bei dem die beiden jungen Männer ums Leben gekommen sind- einer von ihnen war gerade erst Vater geworden und hatte vor einem Monat erst geheiratet.
Das andere gab es natürlich auch: das Sterben von Menschen, die ans natürliche Ende ihres Lebensbogens gekommen sind, wo einfach nichts mehr übrig war- deren Tod auch eine Erlösung war und für die Angehörigen – warum sollte man es nicht so ehrlich sagen – vielleicht auch ein Stück Befreiung und Aufatmen. Aber eine Lücke und Leere haben auch sie hinterlassen, eine Narbe, die man immer noch spürt – und immer spüren wird. Wer hätte den Tod von Eltern oder von besonders lieben Menschen, und sei er noch so lange her, so restlos weggesteckt, als sei nie etwas gewesen?
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.

Aber kann man das so sagen? Was heißt da "den eigenen Tod stirbt man nur"? Wo mein todsicheres Sterben doch der größtmögliche Einschnitt ist, ein totales Zerbrechen, der dunkle Abgrund?
Und doch ahnen wir, was die Dichterin meint. Denn es gibt so etwas wie ein tiefes Einverständnis mit dieser ehernen Wahrheit, dass unser Leben nun einmal endlich ist und ich geboren bin, um zu sterben. Und ich denke mir manchmal: Nicht dass ich irgendwann sterben muss, ist schlimm. Aber schlimm wäre es, wenn ich am Ende meines Lebens zurückblickte und sagen müsste: Eigentlich habe ich ja gar nicht gelebt. Ich habe nichts gemacht aus dem Geschenk, das Gott mir anvertraut hat. Ich habe meine Berufung verfehlt, meine Einmaligkeit verfehlt, meine Suche nach Sinn und Gott verfehlt.

Denn ohne Gott: Könnte man da wirklich etwas Sinnvolles sagen über Hoffnung für die Toten und für uns selbst? Einen Satz etwa wie den: "Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben"?
Das ist ja nicht nur eine Beschreibung der Trauer der Zurückbleibenden- das ist, recht verstanden, auch ein sehr christlicher Satz. Der Glaube wagt das ja zu behaupten, dass wir im Letzten keinen Grund haben müssen, uns vor dem Tod zu fürchten. Wer aus diesem Leben geht, hat im Namen Jesu Christi eine Zukunft. "Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn", nennt der Apostel Paulus das.
Wir wissen natürlich, dass diese Hoffnung für die Toten in unserem Land schon lange nicht mehr mehrheitsfähig ist und für viele geradezu seltsam wirkt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ja keiner von uns sich denken kann, wie man sich dieses "dem Herrn gehören", diese Zukunft im Leben Gottes vorstellen soll. Und es ist auch für einen gläubigen Menschen oft schwer zu verstehen, warum dieser Weg in das neue Leben bei Gott durch das enge und dunkle Nadelöhr des Todes führen muss, das oft so viel Schmerz zurücklässt und so viele Fragen. Aber Schmerz und Fragen eben nur für uns – und nicht für die, die gegangen sind.

Gedenken wir heute unserer Verstorbenen. Beten wir, dass Gott sie vollendet. Und dass die, die zurückbleiben, dass wir alle aus dieser Hoffnung leben können, dass sie uns nur vorausgegangen sind auf dem Weg, den wir alle gehen werden, wie und wann auch immer. Und der auch uns ans Ziel führt."