Impuls vom 29.02.2012

Mit der Bibel beten

Beten mit der Heiligen Schrift

Hirtenbrief des Erfurter Bischofs Joachim Wanke zur österlichen Bußzeit 2012


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

der Besuch des Heiligen Vaters im September des vergangenen Jahres im Bistum Erfurt war ein besonderer Höhepunkt unseres kirchlichen Lebens. Wir sind dankbar für die zwei Tage, die uns Papst Benedikt in Etzelsbach und Erfurt geschenkt hat. Diese Tage werden uns, nicht zuletzt durch die eindrucksvollen Bilder, lange in guter Erinnerung bleiben.

Wer in Ruhe noch einmal die Thüringer Predigten des Papstes nachliest, spürt, wie eindringlich er auf den Quellgrund unseres Glaubens, unsere bleibende Verbundenheit mit Jesus Christus hingewiesen hat. In Etzelsbach hat uns Papst Benedikt in einer einfühlsamen Weise das dortige Gnadenbild erschlossen. Das Herz Mariens ist ganz dem geöffneten Herzen Jesu zugewandt. So öffnet sich für sie und auch für uns der Quell einer Liebe, die von Gott her unser Leben ergreift und verwandelt und uns selbst zu einer Lebensquelle für andere machen kann. In seiner Erfurter Predigt hat der Papst auf die Heiligen unseres Thüringer Landes hingewiesen. In ihren Biographien, so sagte er, zeige sich, dass es "möglich und gut ist, in der Beziehung zu Gott zu leben", nicht zuletzt durch "die beständige Zwiesprache des Gebets", aus dem diese Frauen und Männer wie aus einer ständig sprudelnden Quelle Kraft und Zuversicht für ihr Lebenswerk geschöpft haben.

Ich bin fest davon überzeugt: Die Erneuerung der Kirche und meines persönlichen Christseins beginnt von innen her. Ich möchte darum noch einmal an Gedanken anknüpfen, die ich im Fastenhirtenbrief des vergangenen Jahres ausgesprochen hatte. Wir leben in einer Zeit, die im Begriff ist, Gott zu vergessen. Es besteht die reale Gefahr, dass wir Christen selbst in den Strudel der Gottvergessenheit hineingerissen werden. Irgendwie ist man noch nominell Christ und bekennt sich auch dazu, aber man lebt dann im Alltag so, als ob es Gott nicht gäbe. Was kann da helfen? Meine Antwort lautet: Das Gebet.

In die Gebetsschule des Herrn gehen – das ist eine Aufgabe, die vor allen anderen Aufgaben, die wir in unseren Gemeinden zu erledigen haben, Vorrang hat. Ja, erst so können die sonstigen kirchlichen Aktivitäten, die auch wichtig und notwendig sind, nachhaltig und fruchtbar werden, etwa die Sorge um den Nächsten, um Gottesdienste, um religiöse Bildung oder Gremienarbeit. Es ist wie mit dem Grundwasser. Man sieht es nicht, aber erst sein Vorhandensein macht einen Garten oder einen Acker fruchtbar. Die vor uns liegende Fastenzeit soll uns einen neuen Anstoß geben, uns intensiver um das Beten zu mühen.

Ich möchte heute dazu einladen, besonders auf das Beten mit der Heiligen Schrift zu schauen – ein Thema, um das es auch in den Predigten der Fastenzeit gehen soll.

Wenn es wahr ist, dass die ganze Heilige Schrift Wort Gottes ist, dann dürfen wir das begründete Vertrauen haben, dass die Heilige Schrift insgesamt so etwas wie eine Gebetsschule ist. Bestimmte Texte der Heiligen Schrift, etwa das Vaterunser, auch die Psalmen und die Hymnen des Neuen Testaments wie das Benediktus oder das Magnifikat, sind ja mit gutem Grund fest im Gebetsschatz der Kirche verankert.

Ich persönlich habe mit folgender Gebetspraxis gute Erfahrungen gemacht: dem Beten mit kurzen Schriftworten. Ich suche mir kurze Worte aus der Heiligen Schrift, die ich als Gebetsanrufungen in meinen Tag einbaue. Ich nenne diese Worte Situationsgebete. Sie beleuchten bestimmte Alltagssituationen und tauchen sie in ein neues Licht. Sie sind für mich so etwas wie geistliche "Tiefenbohrungen", besonders in Situationen, in denen es sehr profan zugeht und Gott weit weg zu sein scheint.

Ich nenne ein Beispiel. Beim Breviergebet bin ich bei dem kurzen Psalmwort: "Herr, du kennst mich!" (Ps 139,1) hängen geblieben. Es ist merkwürdig: Dieses Wort, in unterschiedlichen Situationen still im Herzen wiederholt, hat eine eigentümliche Wirkung. Es ist wie mit einer wechselnden Beleuchtung, die bekanntlich auch eine Landschaft, ein Gesicht, einen Gegenstand verändern kann. Dieses Wort "Herr, du kennst mich!" kann mich trösten, wenn ich es z. B. in einer Situation ausspreche, in der ich mit meinen guten Absichten verkannt werde. Oder: Es kann mich mahnen, wenn ich mich dabei ertappe, überheblich oder eingebildet zu werden- oder wenn ich mich unter mir unbekannten Menschen einsam und verlassen fühle- oder wenn ich von mir selbst enttäuscht bin- oder wenn ich mir plötzlich einer Schuld bewusst werde. "Herr, du kennst mich!" Ein solches Wort befreit aus Verengungen, es macht das Herz weit und gibt Luft zum Atmen. Und es öffnet für einen kurzen Augenblick den Himmel über mir – nicht nur über mir allein.

Ein solches aus der Heiligen Schrift gewonnenes Situationsgebet, in den Alltag mit hineingenommen, hat verschiedene Vorteile: man kann es gut behalten- es eignet sich gut zur Wiederholung- es "gräbt sich ein"- es verlangt keine besonderen Gebetszeiten und Gebetsräume und zudem ist die Gefahr gering, beim Anwenden dieses Gebets durch Zerstreuung abgelenkt zu werden.

Ein solches Wort, innerlich im Herzen etwa bei einem schwierigen Gespräch aufgerufen, bei einer ärgerlichen Brieflektüre, bei einem langweiligen, monotonen Tun, verändert in der Tat die jeweilige Situation. Hier erreicht das Evangelium das konkrete Leben. Es ist ihm vielleicht näher als in einer ausgesparten Gebetszeit, die sicher auch im Lebensrhythmus notwendig ist. Doch hier mache ich auf einmal die Erfahrung, dass es sich auch im "Alltagskleid" beten lässt. Das Wort Gottes gewinnt in solchen Situationen eine Stimme, die sonst ungehört bliebe. Es ergibt sich die Chance, dass dieses Wort mich ändert und bei mir bleibende Spuren hinterlässt.

Durch dieses biblisch inspirierte "Situationsgebet" erfährt das Evangelium eine vertiefte Auslegung. Auf einmal entfaltet es einen Bedeutungsreichtum, der selbst bei längerem Nachdenken verborgen geblieben wäre. Die Situation ist es, die hier das Wort Gottes kommentiert. Gerade etwa für uns Priester, die wir gern "über" dem Wort sitzen, ist es heilsam, auf diese Weise unser eigenes Leben "unter" das Gotteswort zu stellen. Am Abend eines Tages kann ich ein solches Wort noch einmal aufgreifen, eine Gewissenserforschung anschließen, ein neues Wort für den nächsten Tag suchen – oder auch dem Wort nachsinnen, dass ich am Tage "entdeckt" habe.

Ich nenne ein zweites Beispiel: das Wort des blinden Bartimäus, mit dem er sich voll Erwartung dem Herrn zuwendet: "Herr, ich möchte sehen können!"(Mk 10,51). Auch Bischöfe werden manchmal kritisiert. Schnell kann man in einer solchen Situation ärgerlich werden. Da kann ein solches Gebetswort helfen. Ich bitte darin um die Einsicht, vielleicht doch eigene Fehler und Schwächen zu erkennen und einzugestehen. Oder, in der umgekehrten Situation: Ich muss andere kritisieren. Da kann dieses Wort "Herr, ich möchte sehen können!" aufmerksam machen, dass es neben aller Kritik auch Positives am anderen oder an einer Situation festzuhalten gäbe. Oder: Ich bereite mich auf einen schwierigen Besuch vor. Der genannte Gebetsruf öffnet mich innerlich für das, was Gott mich sehen lassen will und was mir jetzt noch verborgen ist. Oder wenn ein Streit zu eskalieren droht: Das Gebetswort "Herr, ich möchte sehen können!" bringt mich zur Einsicht, dass vielleicht doch ich den Balken im eigenen Auge habe und der andere nur den Splitter. Oder in der Situation der Überlastung, wenn ich im Begriff bin, mich selbst zu bemitleiden: Da kann ein solches Wort "Herr, ich möchte sehen können!" daran erinnern, dass ich mehr Grund habe zu danken als zu klagen. Das Selbstmitleid wird dann leichter unterbleiben – und dies wird auch meiner Umgebung gut tun.

Das sind Beispiele für die Vielgestaltigkeit der Wirkungen, die ein solch lebendiges Beten mit Worten der Heiligen Schrift im Alltag hervorbringen kann. Ich nenne einmal noch einige weitere biblische Worte, die mir, auf diese Weise angewendet, schon öfters beim Beleuchten von Alltagssituationen "Licht von oben" geschenkt haben:

"Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch!" (Joh 15,4)
"Seht, ich mache alles neu!" (Offb 21,5)
"Gott, schaffe mir ein reines Herz!" (Ps 51,12)
"Ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir!" (Ps 23,4)
"Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28)
"Auf dein Wort hin werde ich die Netze auswerfen!" (Lk 5,5)

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aus dem heutigen Sonntagsevangelium könnte z. B. der Bittruf "Herr, bekehre mich!" ein solches Situationsgebet für meinen Alltag werden. Die immer neue Erinnerung daran, dass ich Umkehr nötig habe, wird mich aufmerksamer und kritischer auf eigene Verhaltensweisen schauen lassen. Die Fastenzeit ist eine Chance – wie man heute sagt – mein Leben zu "evaluieren", es auf den Prüfstand zu stellen. Der kleine Gebetsruf erinnert mich daran.

Wir wissen aus Erfahrung: Auch menschliche Liebe braucht kleine Erinnerungszeichen, etwa der Trauring am Finger, die Fotos mit den Kindern und Enkelkindern als Blickfang im Wohnzimmer, der letzte Brief eines verstorbenen Angehörigen, den ich immer wieder einmal zur Hand nehme. Daran kann sich dann das Herz festmachen. Ob das Situationsgebet mit Worten der Heiligen Schrift nicht ein solches Erinnerungszeichen sein könnte?

Jedes Beten ist "Erinnerung an Gott". In seinen Formen ist das Beten vielgestaltig und sehr unterschiedlich. Es gibt feierliche Hochformen des Gebets, wie unser Beten in der Eucharistie, aber es gibt eben auch das alltägliche, ganz unfeierliche persönliche Beten. Es gibt mitten im Alltagsgetümmel das Wachrufen eines "Gedächtnisses des Herzens". Der alte Kirchenvater Gregor von Nazianz hat einmal gesagt: "Man soll sich häufiger an Gott erinnern als man atmet". Ich gebe zu: Ich kann nicht ständig die Hände falten. Aber ich kann bei allem, was ich tue, das Herz zu Gott erheben. Und wenn ich das mit Worten der Heiligen Schrift tue, wie bei diesem von mir heute vorgestellten Situationsgebet im Alltag, ist mit Sicherheit der Heilige Geist dabei.

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Es gibt sicher viele andere Themen, die in der Kirche überlegt und diskutiert werden müssen. Ich habe bewusst das Thema Beten für diesen Hirtenbrief gewählt. Denn für unsere derzeitige geistliche Not in der Kirche gibt es meiner Meinung nach keine bessere Therapie als das Gebet. Wir brauchen geistliches Grundwasser – dann kann vieles in der Kirche wieder neu zum Blühen kommen. Darum lasst uns in der vor uns liegenden österlichen Bußzeit mit neuem Mut das Beten wagen!