Impuls vom 10.09.2015

Herz

Wir feiern den Herz-Jesu-Freitag. Die Texte und die traditionelle Frömmigkeit dieses Tages sind uns allen in der kleinen Gottesdienstgemeinde wohlbekannt. Und doch fällt es mir an diesem Abend schwer, mich zu konzentrieren. "Wir bitten dich, Herr, unser Gott: Bilde unser Herz nach dem Herzen deines Sohnes", bete ich im Tagesgebet. Und unwillkürlich drängen sich mir die Bilder auf, die seit Tagen und Wochen die Medien beherrschen: Bilder der Flüchtlingsnot. Es sind solche mit ganz viel "Herz" dabei, etwa von der enormen Hilfsbereitschaft zahlreicher Ehrenamtlicher, die spontan zum Münchner Hauptbahnhof geströmt sind und ohne die der Massenansturm nicht zu bewältigen gewesen wäre. Andere Bilder aber sind von einer so schrecklichen Herzlosigkeit, dass sie sich schier einbrennen. Wie könnte man die Fotos des dreijährigen Aylan wieder vergessen, der mit seiner Mutter und seinem Bruder ertrunken ist und dessen kleine Leiche das Meer an die Küste gespült hat …

Nach dem Gottesdienst ist ein Termin, und nach dem offiziellen Teil beginnt noch ein Gespräch. Natürlich sind wir auch hier bald wieder beim Thema Asylbewerber. "Es macht mich ganz krank", sagt eine, "all diese armen Menschen." Ein anderer spricht von den Ängsten, die das Ganze auslöst. Werden es nicht längst viel zu viele? Wie soll Deutschland das schaffen? Wie wird das unser Land verändern? Schon jetzt gäbe es doch Probleme in der Stadt, etwa mit den fast 50 jungen Männern, die in einem Haus mitten im Wohngebiet leben und teils von Nachtruhe ganz andere Vorstellungen haben als ihre Nachbarn. "Das ist gar nichts im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die es uns noch bereiten wird, wenn auf einmal so viele Muslime mit ihrer ganz anderen Kultur bei uns leben", ergänzt ein Dritter. "Haben die Osteuropäer nicht Recht, wenn sie von ‚Abschottung als moralischer Pflicht‘ sprechen?" – Und so geht das Gespräch noch lange weiter.

Auch in unserer Gesellschaft wird die Diskussion nicht so schnell ein Ende finden. Man ahnt, dass das eines der großen Probleme auch der kommenden Jahre sein wird. Entsprechend äußern sich auch Kirchenvertreter immer wieder dezidiert- mittlerweile gibt es von der Deutschen Bischofskonferenz sogar für äußerste Notfälle eine "Handreichung zu aktuellen Fragen des Kirchenasyls". Und immer mehr wird klar, dass es einfache Lösungen nicht geben kann, sondern meist nur den Weg von einer Not zur nächsten und von einem Dilemma zum anderen.
Und trotzdem kann die Position der Kirche, die an Jesus und seinem "Herzen" Maß nimmt, immer nur diese sein: "Die wohlhabenderen Nationen sind verpflichtet, soweit es ihnen irgend möglich ist, Ausländer aufzunehmen, die auf der Suche nach Sicherheit und Lebensmöglichkeiten sind, die sie in ihrem Heimatland nicht finden können" (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 2241). Vielleicht ist es ja sogar – man kann das nur ganz vorsichtig formulieren – eine Gnade Gottes, dass die reichen, oft allzu satten und oberflächlichen Menschen Europas herausgefordert werden, wieder mehr zu unterscheiden, worauf es im Leben wirklich ankommt – und was der Glaube an Jesus Christus bedeutet und einem abverlangen kann. Beim Gottesdienst für die 71 Männer, Frauen und Kinder, die im Schlepper-LKW jämmerlich erstickt sind, formulierte es der Wiener Kardinal Schönborn so: "Irgendwie ist das, was wir jetzt erleben, was uns herausfordert, schon ein sehr, sehr ernster Test, ob bei uns … in Europa das christliche Erbe noch lebt und gilt, oder ob es schon zur Makulatur geworden ist."

So gehen nach der abendlichen Flüchtlingsdebatte im kleinen Kreis meine Gedanken noch einmal zum vorausgegangenen Gottesdienst zurück. Und ich denke mir: Wir sollten nicht aufhören, Gott für die Christenheit und unser Europa zu bitten: "Bilde unser Herz nach dem Herzen deines Sohnes und wecke in uns die Kraft der Liebe, damit wir ihm gleichförmig werden". Ihm gleichförmig gerade in herzlosen Zeiten. (TS)