Impuls vom 30.09.2018

Hirtenwort zur Missbrauchsstudie

Hirtenbrief des Bischofs von Regensburg anlässlich der Veröffentlichung der MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Im Juli letzten Jahres habe ich mich schon einmal im Zusammenhang mit dem ernsten Thema "Körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen" an Sie gewandt. Damals ging es um die Vorfälle bei den Regensburger Domspatzen und ihre Aufarbeitung. Heute muss ich erneut ein Wort in dieser Sache an Sie richten.

Wie Sie aus den Medien erfahren haben, wurde in der zurückliegenden Woche die Studie mit dem Titel "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" vorgestellt. Die Meldungen haben weit über die Grenzen der Kirche hinaus Beachtung gefunden und Bestürzung, Trauer und auch Wut ausgelöst.

Ich weiß, dass manche von Ihnen des Themas überdrüssig sind und mir raten, mich auf die Verkündigung des Evangeliums und seiner Heilsbotschaft zu konzentrieren. Ich bitte auch Sie um Ihr Ohr. Dieses Thema ist zu wichtig, als dass ich dazu schweigen dürfte.

Das Leid und die Tränen der Betroffenen bewegen mich, die oft schwerwiegenden bleibenden seelischen Schäden, die Kindern und Jugendlichen zugefügt wurden, verpflichten mich, die Wirklichkeit zu benennen und das Menschenmögliche zu unternehmen, aufzuklären und vorzubeugen.

Und vielleicht kann ich ja auch zu Trost und neuer Zuversicht aus dem Glauben beitragen.

Was ist das Neue und Besondere an dieser Studie?

Darauf ist als erstes zu antworten: Diese Studie ist die erste und bislang einzige Untersuchung, mit der sich eine große Institution der Zivilgesellschaft in Deutschland diesem dunklen Kapitel in umfassender Weise stellt. Psychologen, Seelsorger und Juristen wissen: Sexuelle Gewalt - auch gegenüber Kindern und Jugendlichen - ist eine furchtbare Tatsache, die alle gesellschaftlichen Schichten, Gruppen und Institutionen belastet.

Die katholische Kirche hat ein Konsortium von Wissenschaftlern aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (daher MHG-Studie) beauftragt, herauszufinden, wie häufig und in welchen Formen sexueller Missbrauch im Erhebungszeitraum von 1946 bis 2015, also in einem Zeitraum von rund 70 Jahren, vorgekommen ist. Darüber hinaus sollten gegebenenfalls Strukturen in der Kirche identifiziert und benannt werden, die den sexuellen Missbrauch begünstigen, um daraus Schlüsse für die Prävention zu ziehen.

Der Blick musste auch deshalb so weit zurückreichen, weil Opfer häufig oft erst viele Jahre oder gar Jahrzehnte später den Mut aufbringen, über das erfahrene Leid zu sprechen und sich vertrauten Personen zu öffnen.

Die ermittelte Zahl ist nicht wesentlich neu, bestürzt aber dennoch: 4,4 Prozent der Kleriker werden sexueller Übergriffe bezichtigt. Die Studie macht keine Aussagen über den Wahrheitsgehalt der Anschuldigung. Erfahrungsgemäß gibt es Falschbeschuldigungen. Sie dürften aber, so die Auskunft der Experten, nur einen geringeren Teil ausmachen. Hinzu kommt ein schwer zu bezifferndes weiteres Dunkelfeld.

Was die Formen des Missbrauchs betrifft, so reichen sie von unangemessener Wortwahl über Exhibitionismus, unsittliche Berührungen bis hin zu Vergewaltigungen. Die schweren Fälle machen dabei einen nicht geringen Prozentsatz aus.

Das Leid der Kinder und Jugendlichen wurde dadurch verstärkt, dass ihnen, wenn sie sich denn überhaupt zum Reden überwinden konnten, meist nicht geglaubt wurde.

Systembedingt war der oftmals völlig unangemessene Umgang mit den Tätern. Oft wurden sie nur stillschweigend versetzt und ernst ermahnt. Die Verantwortlichen am neuen Wirkungsort, etwa Pfarrer oder Dekan, wurden nicht oder nicht genügend über die Vorgeschichte informiert. Der Schutz des öffentlichen Ansehens der Kirche wurde über das Wohl der Kinder und Jugendlichen gestellt, die Perspektive der Opfer oft übersehen. Darüber bin ich zutiefst beschämt und ich bitte abermals alle Betroffenen um Vergebung.

Die von den Bistümern seit dem Jahr 2002 eingeleiteten Präventionsmaßnahmen werden von der Studie ausdrücklich gewürdigt. Dies darf uns jedoch nicht daran hindern, diese Maßnahmen noch zu verbessern und sie auch innerlich überzeugt mitzutragen als Maßnahmen zur gegenseitigen Wertschätzung und Achtung gerade im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit.

Auf viele Detailfragen kann ich im begrenzten Rahmen eines Hirtenwortes nicht eingehen. Daher weise ich ausdrücklich auf die Veröffentlichungen auf der Homepage des Bistums hin.

Liebe Schwestern und Brüder! "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde" (Mk 9,42). Mit diesen ungeheuerlich drastischen Worten belegt Jesus im heutigen Evangelium diejenigen, die von oben herab und aus vermeintlicher intellektueller Überlegenheit die einfachen Gläubigen verunsichern.

Diese strengen Worte gelten aber nicht zuletzt auch denjenigen, die als Diener der Kirche gegenüber Schutzbefohlenen, ihre Autorität, ihre Macht und ihr Ansehen missbrauchend, sexuelle Gewalt ausüben; ganz abgesehen davon, dass es sich um ein schwer sündhaftes Verhalten handelt und um die Missachtung der Gebote und Lebensweisungen Gottes. Wenn Boten Gottes und Diener der Kirche Kinder und Jugendliche missbrauchen, ist dies besonders schlimm, weil zu den körperlichen und seelischen Qualen auch noch die religiöse Dimension hinzukommt und die Betroffenen oft ein Leben lang mit Gott hadern oder gar an ihm und seiner Kirche verzweifeln.


Die Autoren der Studie geben einige Hinweise auf die notwendige Aufarbeitung, die wir Bischöfe sehr ernst nehmen:

- Da ist als erstes die Intensivierung der Sorge um jede und jeden einzelnen, die Opfer geworden sind. Neben einer Anerkennungsleistung und zusätzlich zu unserer Anlaufstelle biete ich - vorausgesetzt, dass eine Re-traumatisierung nicht zu befürchten ist - ein von einem Experten oder einer Expertin begleitetes persönliches Gespräch an. Ich habe seit meinem Amtsantritt bei zahlreichen derartigen Begegnungen die Erfahrung gemacht, dass es für die Betroffenen hilfreich und heilsam ist, wenn der Bischof als oberster Repräsentant der Ortskirche das Opfer anhört, sich das Leid schildern lässt, Anteil nimmt und um Vergebung bittet.

- Im Hinblick auf die Dokumentation und spätere Überprüfbarkeit werden auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz verbindliche Standards der Personalaktenführung geplant.

- Vertuschung ist kein Kavaliersdelikt sondern ein Straftatbestand, den der Jurist als "Strafvereitelung" bezeichnet und der entsprechend belangt werden muss.

- Was die Prävention betrifft, so überlegen wir, wie wir im Bistum Regensburg noch verbindlich besser werden können. Ich habe in diesem Zusammenhang am vergangenen Dienstag in Fulda im Rahmen der Vorstellung der Studie einen "Präventions-TÜV" vorgeschlagen, dem sich die Präventionsmaßnahmen des Bistums regelmäßig unterziehen müssen. Ich bin damit bei Johannes-Wilhelm Rörig, dem Beauftragten der Bundesregierung für Missbrauch an Minderjährigen, wo eine solche Zertifizierungsstelle angesiedelt sein könnte, auf offene Ohren gestoßen.


Ziel aller Bemühungen muss sein, nicht nur immer aufmerksamer zu werden für Situationen und Strukturen, die den Missbrauch begünstigen, um entsprechend reagieren zu können. Es geht auch darum, dass insgesamt immer mehr eine Kultur der Achtsamkeit und des respektvollen Umgangs miteinander wächst und das Leben in unseren Pfarreien und kirchlichen Einrichtungen prägt.

Vor einer illusorischen Erwartung muss ich freilich warnen: zu glauben, dass dieses leidige und schmerzhafte Problem irgendwann jemals ganz verschwinden wird. Die Schwäche und Versuchbarkeit der menschlichen Natur wird uns immer wieder einholen. Prävention und Wachsamkeit bleiben ein Dauerauftrag, um das Menschenmögliche zur Verhinderung zu tun.

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Eines bin ich freilich den Priestern, Diakonen und allen pastoralen Mitarbeitern auch schuldig: den Dank für alle gute Arbeit und Seelsorge. So erschreckend die Zahlen sind; sie besagen doch auch, dass die überwältigende Mehrheit der Priester, Diakone und Ordensmänner unbescholten waren und sind. Sie machen in der Regel ihre Arbeit gut, verkünden das Evangelium und kümmern sich um die ihnen Anvertrauten. Das darf bei aller Scham und allem Entsetzen über Schuld und Versagen nicht übersehen werden. Es gibt keinen Grund für einen Generalverdacht!

Der Jesuitenpater Hans Zollner, Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission und ausgewiesener Fachmann, hat im Hinblick auf besorgte Eltern vor ein paar Tagen erst in einem Interview mit der Osnabrücker Kirchenzeitung gesagt: "Kinder sind in der Kirche sicher, vielleicht sogar sicherer als irgendwo anders. Kaum eine andere Institution wie die Kirche dürfte sich so offen, selbstkritisch, konsequent und auch von außen kritisch begleitet mit dem Skandal des Missbrauchs auseinandersetzen."[2]

So beschämend die Erkenntnisse, so schmerzlich die anstehenden Maßnahmen auch sein werden: Nur die Wahrheit macht uns frei, das ehrliche Bekenntnis der Schuld eröffnet Zukunft, die Selbsterkenntnis ebnet den Weg zur Besserung.

In diesem Sinne bitte ich Sie alle um Ihre Mithilfe und Mitsorge bei der Entwicklung einer Kultur der Achtsamkeit, und um Ihr Gebet für alle Betroffenen, auch für die Täter, um Ihr Gebet für mich und alle Priester.

Dazu segne Euch der dreifaltige Gott,

der + Vater und + der Sohn und der Heilige + Geist.

Regensburg am Fest der heiligen Erzengel Michael, Gabriel und Raphael, 29. September im Jahr des Herrn 2018.


+ Rudolf

Bischof von Regensburg