Impuls vom 20.07.2009

Christophorus

Höchstwahrscheinlich ist er eine Fiktion. Obwohl ihn die Menschen im Morgen- und im Abendland verehrten, all die Jahrhunderte. Obwohl ihm schon 452 in Chalkedon am Bosporus eine Kirche geweiht worden ist. Es hat ihn wohl nie gegeben, den heiligen Christophorus (auf deutsch "Christusträger"). Alles, was man von ihm erzählt, ist reine Legende.

Na und?

Es gibt eine Wahrheit hinter den Dingen. Erfundene Geschichten können "wahrer" sein als korrekte Berichte. Und eine Legende wirklicher als jedes exakte Protokoll. Was sagt die Legende? Ein Hüne, nach den ältesten Versionen sogar ein menschenfressender Riese, unterwirft sich dem kleinen Christuskind, in dem er den König der Welt erkannt hat. Der Kraftprotz lässt sich taufen und erleidet für seinen kleinen Herrn den Martertod.

Das bedeutet: Die Selbstverständlichkeiten wanken. Die Maßstäbe werden umgekehrt. Nicht mehr auf brutale Stärke kommt es an, sondern auf die inneren Kräfte. Zuwendung und Liebe haben mehr Macht als die nackte Gewalt.

Was sagt die Legende? Der gutmütige Riese, frisch getauft, verdingt sich als Fährmann und kann mit seiner gewaltigen Körperkraft auf Kahn oder Schiff verzichten. Er setzt sich die Kundschaft einfach auf die Schulter und trägt sie über den Fluss. Eines Tages trägt er Gott, der den Fluss und den Fährmann und die ganze Welt geschaffen hat.

Das bedeutet: Die Menschen sind dazu da, einander zu tragen, in ihren Sorgen und Ängsten. Und es kann sein, dass der, den ich trage, dem ich beistehe, sich plötzlich als mein Gott entpuppt, der mich trägt und von dem ich lebe. Wenn wir einander tragen, bringen wir Gott auf die Erde.

Was sagt die Legende, und was sagt der Christophorus-Kult des Mittelalters? Wer ein Bild des heiligen Riesen ansieht und Christus auf seinen Schultern, der ist gerettet, der wird einen guten Tod finden. Das gilt immer noch: Wer Gottes menschliches Gesicht in Jesus Christus anschaut, der ist gerettet. Es ist nicht notwendig, kluge Bücher zu lesen, komplizierte Riten zu befolgen oder strengen Gesetzen zu gehorchen (so hilfreich sie sein mögen, um das menschliche Miteinander zu ordnen). Es genügt, Gott anzuschauen und seine in einem Menschen gegenwärtige Liebe. Es genügt, bei ihm sein zu wollen, sich seiner Kraft auszusetzen.

Das gibt Mut, zu leben. Vertrauen, stark genug, sicher durch tiefe Wasser zu gehen - wie Christophorus. Kraft, stark genug, die Schwachen zu tragen - wie Christophorus. Und am Ende, hoffentlich, das Glück, Gott zu schauen.


Christian Feldmann (in: Kämpfer - Träumer - Lebenskünstler).