Impuls vom 19.03.2010

Was ist Aufklärung?

Die lawinenartigen Enthüllungen über sexuellen Missbrauch in katholischen Schulen erschüttern das Selbstverständnis der Kirche. Es hilft nicht, da­rauf zu verweisen, dass auch Christen Sünder sind, dass die Kirche jedoch - im Credo - "heilig" sei.
Die Kirche ist nicht nur unsichtbar, virtuell, jenseitig, sondern sichtbar, leibhaftig, in der Welt. Wir alle sind Kirche. Am Verhalten der Amtspersonen misst sich die Glaubwürdigkeit am meisten. Was da an Abgründen ans Licht kam, ist entsetzlich. Die Kirchenführung muss sich zu Recht viele Fragen gefallen lassen, darunter jene, ob es im soziologischen wie religiösen "System" Kirche womöglich doch Verblendungs­zusammenhänge und bei der Zulassung zum geist­lichen Amt Engführungen in der Auswahl gibt, die sexuelle Pathologien befördern könnten.

Fast alle jetzt bekanntgewordenen Fälle liegen Jahrzehnte zurück. Damals hat die Gesellschaft allgemein die psychosozialen Folgen für die Opfer unterschätzt. Auch die weltlichen Institutionen handelten wie die Kirche: schweigen und versetzen. Die staat­lichen Schulleitungen und Schulaufsichtsbehörden ducken sich nun jedoch weg und sind froh, dass es bevorzugt die Kirche trifft. Die Medien haben in die Heuchelei kräftig eingestimmt. Es fällt eben leichter, jene, die die Dinge bekanntmachen, an den Pranger zu stellen, als Fälle aufzuklären, die aktuell geschehen. Das sind vierzig angezeigte Taten pro Tag, zwischen 14 000 und 15 000 pro Jahr, weit über 200 000 seit 1995, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Vieles spielt sich in der Verwandtschaft ab, anderes in pädagogischen Einrichtungen, Vereinen ...
Fachleute sagen, sexueller Missbrauch komme in der katholischen Kirche wegen der strengen Sexualmoral deutlich seltener vor als sonstwo. Das bittere Thema muss aber offenbar dazu herhalten, Abneigung gegen die Kirche zu schüren. Sogar die Bundesjustizministerin spielte sich damit auf und stellte wider besseres Wissen Behauptungen in den Raum, die Kirche wolle nicht hinreichend aufklären. Wir aber fragen: Wer vertuscht da was? Wo ist die Verlogenheit am größten? Man schaue sich nur die Entrüstungsmoral der Privatsender an, die im Videotext an erster Stelle von Missbrauch berichten, um gleich darunter zu sexuellen Perversionen aller Art einzuladen, wofür sie ihre Bildschirmseiten in großer Menge für Werbung bereitstellen.

Schließlich: Nicht alles geht die Öffentlichkeit an. Nicht jede Pathologie muss an die große Glocke der medialen Ergötzung gehängt werden. Jedes Verbrechensopfer hat das Recht zur Anzeige. Es ist Sache der Justiz, das streng und weise zu verfolgen. Der Pranger des Mittelalters ist Vergangenheit, nicht aber die Auf­klärung, die Selbstaufklärung verlangt. Da ist die Glaubensgemeinschaft trotz ihres Versagens und Negativ-Images der säkularen Gesellschaft voraus.


(in: Christ in der Gegenwart 11/2010)