Impuls vom 27.11.2010

Advent - Ouvertüre

"Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen- denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen sehen. Wenn (all) das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter- denn eure Erlösung ist nahe." (Lk 21,25-28)

Fragt einer seine Nachbarin: "Wie alt bist du eigentlich?" - "39" - "Aber das hast du, als ich dich vor drei Jahren gefragt habe, auch schon gesagt." - "Jawohl", sagt die Frau, "denn ich stehe zu dem, was ich gesagt habe."
So ungefähr kommt vielen das vor, was in der Bibel steht und was die Kirchen verkünden: immer das Gleiche und darum einfach von gestern. Zum Beispiel spielen sie, wenn das Jahr zu Ende geht, wieder Advent – als ob es im Ernst etwas zu erwarten gäbe. Und lesen Sachen aus der Bibel vor: Zeichen an Sonne, Mond und Sternen- der ganze Kosmos wird erschüttert- und ein Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommt ... Geht’s noch?

Vielleicht aber denkt mancher nur deswegen so, weil er bloß gelten lässt, was er (wie die Frau) immer schon gesagt und gedacht hat. Für ihn bleibt alles immer, wie es ist. Es ändert sich nichts mehr. Und er erwartet nichts mehr.
In der Bibel steht aber das genaue Gegenteil. Von Anfang bis Ende durchzieht sie ein Glutstrom der Erwartung und der Hoffnung: der Erwartung, dass Gott selbst all das Zweideutige in der Welt und im Leben eindeutig machen wird- und der Hoffnung, dass er des Menschen Leben, das oft so verwickelte und verwirrende, auf eine Bahn bringt, die nicht im Abgrund endet.

Genau darum geht’s im Evangelium. Ums Ganze geht’s. Wenn es ums Ganze geht, also darum, was trägt und wo ich stehe, dann wird spürbar, dass nichts, was es gibt, wirklich verlässlich ist. Die Zeichen an Sonne, Mond und Sternen und das Toben des Meeres deuten an, dass die Welt keinen festen Boden und kein festes Dach überm Kopf gewährt. Wie immer in der Bibel steht das, was in der Form äußerlich sichtbaren Geschehens erzählt wird, auch als Sinnbild für die inneren Dinge. Und das ist hier, in diesem Evangelium, die Angst.
Das werden viele von uns wissen, wie das ist, wenn man wirklich Angst hat, Angst um jemanden, Angst um sich selbst: Da fällt einem die Decke auf den Kopf- der Himmel mit den Sternen, das ganze Gewölbe unserer Ideale und Orientierungen bricht ein, die Erde scheint nicht mehr zu tragen, buchstäblich untergehen fühlen wir uns in der Angst. Wenn wir ganz schlimm versagt haben, wenn wir einem Schicksalsschlag ohnmächtig ausgeliefert sind, da trägt nichts mehr in der Welt, kein gutes Zureden, keine Selbsttäuschung, nicht einmal der liebste Mensch. Da stürzt etwas ein, und nicht nur einmal.

Aber dieser Wahrheit über das Leben kann sich stellen, wer den biblischen Glutstrom der Hoffnung gleichsam auch durch sich selbst hindurchgehen lässt. Wer mit den Vätern und Müttern unseres Glaubens von Abraham an auf Gott hofft und von ihm erwartet, was sie ihm zugetraut haben, dem geht etwas ganz und gar Neues auf: Das Bild eines Gottes mit menschlichen Zügen – das meint der Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommt- das Bild eines Gottes, der uns nahe ist, auf Du und Du nahe.
Wenn dir, Mensch, alles aus der Hand gleitet, wenn du nichts mehr hast, um dich selbst zu sichern und dir etwas vorzumachen- wenn du dich nicht betäubst durch irgendeine Form von Rausch und stattdessen wahrnimmst, wie es wirklich steht- und wenn du auch nicht mit der Geschäftigkeit des Alltags die Angst überspielst, sondern sie dir eingestehst, dann wird dir wie von selbst aufgehen, was allein Halt gibt und Boden unter den Füßen: der Menschensohn. Menschensohn steht für Menschlichkeit. Wo nichts mehr in meiner Macht steht, bleibt mir, Mensch zu sein, wie Gott es gedacht hat.

Was Menschlichkeit meint, das wissen die Christen von dem Menschen, den das Evangelium den Menschensohn nennt. Das Gottvertrauen und die Güte Jesu, – sie haben gemacht, dass seine Menschlichkeit Menschen durch und durch ging, manchmal so sehr, dass einer durch seine bloße Gegenwart gesund geworden ist, wenn er zuvor von der Angst zerrissen gar nicht mehr er selber hat sein können. Jesu Gottvertrauen und Güte haben Menschen ermutigt, neu anzufangen mit Gott und sich selbst. Sie haben ihnen die Kraft gegeben, die Not des Lebens menschlich zu bestehen – und sogar die des Sterbens, dasjenige eines lieben Menschen erst und dann das eigene, ohne in der Angst unterzugehen.
Gott zu trauen wie Jesus es getan hat, und ein bisschen von der Güte zu riskieren: das lässt einen am Ende auch vor dem bestehen, an dem wir alle gemessen werden: am Menschensohn, an dem also, der Mensch war, wie Gott will, dass Menschen sind.

Darum steht am Anfang eines neuen Kirchenjahres immer dieses Evangelium, weil mit all dem, was verkündigt und gefeiert werden wird, nur die etwas anfangen können, die etwas erwarten von Gott. Advent halten heißt: den Blick einüben dafür, wie vorläufig, wie zerbrechlich alles ist, worauf wir meistens setzen. Und: hoffen lernen. Hoffen, dass hinter allem, was so brüchig ist, einer steht, der bleibt.
Das schönste Zeichen dieser Wochen, der Adventskranz, macht diese Hoffnung sichtbar:
Der Kreis, der nicht Anfang und Ende kennt – so treu ist Gott, immer und ohne Ende.
Der Kranz ist aus grünen Zweigen geflochten, Lebendiges mitten in der toten Winterzeit – also: auch da, wo alles vorbei scheint, gibt es einen neuen Aufbruch.
Je länger wir dem Kommen des Herrn entgegen warten, desto mehr Kerzen entzünden wir – desto heller wird es um uns, Sinnbild für das, was innen geschehen will.
Und die farbigen Bänder am Kranz lassen ahnen, dass dem Christen trotz allem, was das Leben treffen kann, Freude kein Fremdwort ist.
Denn in der Hoffnung lebt er – und Zukunft hat er.
Gesegneten Advent!


(nach einem Text von Klaus Müller)