Impuls vom 26.01.2011

Der Skandal der Liebe

Die Diskussion über das neue Papst-Buch dauert an. Was bedeutet es, dass sich Oberhirte Benedikt XVI. überraschend liberal zu Themen wie Aids und einsichtig zu eigenen Fehlern äußert? Kirchenkritikern droht ein Feindbild abhanden zu kommen, meint Matthias Matussek. Ein Debattenbeitrag. (erschienen am 25.11.2010)


Die Sensation war bereits durchgesickert, bevor das Buch vergangenen Mittwoch auf dem Markt kam. Sie bestand in der Antwort des Papstes auf die Frage, ob man Kondome benutzen darf. Jetzt alle festhalten: Ja. Man darf. Unter Umständen.

Ein Erleichterungsseufzer entrang sich der geknechteten Christenheit, die ja offenbar wie im Mittelalter unter bindenden päpstlichen Bullen und Bannflüche zu leben hat. Leitartikler leitartikelten, Menschenrechts-Organisationen schalteten sich ein, Abendnachrichten wurden mit der Meldung eröffnet, Internet-Foren liefen heiß, und natürlich warnte Heinz Küng, der Gegenpapst, vor einem rein taktischen Manöver, aber das tut er immer, wenn der Papst Meinungen äußert, die auch Liberale unterschreiben könnten.

Aus dem Gespräch, das Papst Benedikt XVI. mit dem Journalisten Peter Seewald über Gott und Glauben und den einigermaßen heillosen Zustand der Welt führte ("Das Licht der Welt”), über die Merkantilisierung des Lebens, die achtlose Schändung der Natur, die Konfessionen, die religiöse Ermüdung Europas, schnurrte das Interesse der Publikums auf diese betreffenden 16 Zeilen zusammen. Und diese wiederum auf ein Wort: Kondome.

Diese Verengung muss für jeden deprimierend sein, nicht nur für den Papst.

Nichts offenbar interessiert eine bis zur Schwachsinnsgrenze durchsexualisierte Gesellschaft mehr, als das, was die bayrische Erzkatholikin Gloria von Thurn und Taxis einst als "Schnackseln” bezeichnet hat. An der grundsätzlichen Antwort der Kirche hat sich auch nach diesem Interview nichts geändert. Moraltheologisch gesprochen: Schnackseln ja, aber bitte aus Liebe und mit dem Wunsch nach Kindern.

Gerade das letztere müsste jedem Bevölkerungs-Experten und Familienpolitiker das Herz höher schlagen lassen. Die Haltung des Papstes ist nicht etwa eine reaktionäre, sondern eine geradezu utopische. Er hat sie bereits in seiner ersten Enzyklika "Deus caritas est” niedergelegt. Schon damals muss er den ungeheuren Bedarf an spiritueller Entwicklungshilfe in Liebesdingen gespürt haben. Er hat nämlich partout Sexualität und Liebe zusammengedacht – in einer Welt, die beides längst entkoppelt und den Sex verdinglicht und zur Ware gemacht hat.

"Tabulos” – eine dieser altmodischen Prickelvokabeln

Was den Gebrauch von Kondomen angeht, hat der Papst diesen nun also gebilligt, als "ersten Schritt zur Moralisierung”, zur "Verantwortung”, besonders bei männlichen Prostituierten.

Nur zur Erinnerung: Kondome sind diese Gummi-Dinger, die man sich auf Toiletten aus dem Automaten zieht.

In ermüdender Monotonie fordern Kirchenkritiker immer wieder, dass der Vatikan endlich "tabulos” über die Sexualmoral reden möge. Wobei, jetzt mal im Ernst, "tabulos” doch dann schon wie eine dieser altmodischen Prickelvokabeln ist, mit der Schlepper im vorigen Jahrhundert auf der Reeperbahn die Kundschaft in puffige Plüschbars lockten, und die heute, unter Bedingungen des pornografischen Totalschadens, nur noch Gähnen hervorrufen.

Doch immer noch scheint es nichts Empörenderes zu geben, als jene über Sex reden zu hören, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Nichts zum Beispiel bringt die liberale Öffentlichkeit mehr auf die Palme als der Zölibat, an dem der Papst festhält. Gleichzeitig allerdings titelt der "Stern” alarmierend schon mal "Nichts los in deutschen Betten” und zeichnet damit etwas ratlos die Misere eines freiwilligen Alltagszölibats auf breitester erschlaffter Linie nach. Rätselhafte Zeiten.

Der Papst zeigt sich übrigens in seinem Gespräch mit Peter Seewald ganz von dieser Welt: "Tatsächlich ist es ja so, dass, wo immer sie jemand haben will, Kondome auch zur Verfügung stehen.” Das gilt übrigens auch in Afrika und anderen Aids-Notstandsgebieten, wobei mir stets schleierhaft blieb, warum sich ausgerechnet mehrheitlich islamische, evangelikale oder stammesreligiöse Klienten aus Angst davor, den Segen der katholischen Kirche zu verspielen, in riskantes Sexualverhalten stürzen sollten.

"Nahe bei den Menschen sein”

Auch marodierende Söldner oder marodierende Sextouristen ließen sich bisher vom katholischen Kondomverbot eher wenig irritieren. Hier mal ein paar Zahlen: In Swaziland gibt es 43 Prozent Aids-Infizierte, aber nur 5 Prozent Katholiken. In Uganda ist es eher umgekehrt: Da sind nur 4 Prozent mit Aids infiziert, aber 36 Prozent sind Katholiken. Eine direkte Korrelation zwischen Katholizismus und Aids-Gefahr erschließt sich da nicht.

Dass mit Kondomen allein der Infektionsseuche nicht beizukommen ist, weiß mittlerweile jeder Aids-Aktivist. Der Papst allerdings war genau für diese Aussage geprügelt worden.

Nun wiederholt er die Äußerung, die die Weltpresse auf seinem Afrika-Besuch unterschlug: "Es muss viel mehr geschehen. Wir müssen nahe bei den Menschen sein, sie führen, ihnen helfen- und dies sowohl vor wie nach einer Erkrankung”. Auch das dürfte jeder Aids-Aktivist unterschreiben. Es ist übrigens eine christliche Position, die des Evangeliums vom barmherzigen Samariter. Jeder weiß doch, wie und wo man sich Kondome besorgen kann, sagt der Papst. Das ist deutlich. Am Ideal, dass er darüber hinaus propagieren möchte, und von dem er hofft, dass es nicht verschluckt wird im Lärm, nämlich am Ideal der Liebe in Treue, ändert das kein Jota.

Mir als Katholiken scheint es signifikant, dass er ausgerechnet das Beispiel eines männlichen Prostituierten nimmt, um seine Einsichten zu erläutern. Es zeigt, dass ihm das Herz im Amt weit geworden ist. Er hat aus den abertausenden Menschen, Gesichtern, Schicksalen, die ihm in seinem Amt begegnet sind, gelernt, wie schwer ein Leben in Wahrheit ist. Stricher und Huren, Glaubensschwache, Ausgegrenzte, die spricht er an. So was hat schon mal Ärger gegeben mit dem religiösen Establishment, vor 2000 Jahren.

Da wirkt Deutschland doch sehr klein und besonders hässlich

Besonders aber provoziert er nun die Schriftgelehrten der säkularen Welt, die professionelle Kirchenkritik, weil er sie zunächst mal beschäftigungslos werden lässt, denn er kritisiert sich und seine Firma schon selber und das schonungslos. Die fürchterlichen Missbrauchsfälle! Die Panne im Umgang mit dem ausgeklinkten Holocaust-Leugner Williamson! Diese Geständnisse eigener Fehlbarkeit, wie haben sie sich die Papstkritiker herbeigesehnt. Hier sind sie.

Er sagt, durchaus Gänsehaut treibend, dass in bestimmten Schichten in der katholischen Kirche Deutschlands viele nur darauf warten, ihn abzuschlachten. Doch dann wirft er als Pontifex Maximus den Blick über die außereuropäischen Horizonte einer Weltkirche, die blüht und wächst und Priester ordiniert. Die in einigen Weltgegenden zu den schlimm Verfolgten gehört. Die doch Dienst an den Armen tut und Trost und Hoffnung spendet und begeistert durch Glaubensinnigkeit. Die "katholisch” im Wortsinn ist: allumfassend. Und da wirkt dann Deutschland doch sehr klein und besonders hässlich.

In seinem Gespräch mit Peter Seewald – dessen kulturpessimistischen Fragen er des öfteren optimistische Aufhellungen entgegenhält – setzt er auf die christliche Moral als Mittel gegen die Selbstzerstörung des Planeten. Auf die heutzutage bestsellerfähige Frage "Wofür stehst Du?” gibt er irritationsfreie Antworten. Diese Art von Unfehlbarkeit erwartet dann auch jeder Gläubige.

Der Papst in diesem Gespräch ist glaubensstark, aber nicht autistisch. Es ist ein neues Papstbild, das da aufscheint. Hier spricht nicht der oft als kalter Taktiker verzeichnete Theologie-Professor, der seine Glaubensdogmen mit dem Rücken zur Welt formuliert, sondern der Menschen zugewandte, verständnisvolle Hirte. Und der antwortet mit oft entwaffnender Schlichtheit und Offenheit. Und er spricht ganz unverblümt über die Liebe als wahren, als echten Skandal in der heutigen Zeit



Matthias Matussek
Quelle: http://www.matthias-matussek.de/2010/11/996/#more-996