Impuls vom 14.05.2012

Gottes Geheimnis erleben lassen

Das Unerreichbare lieben - Von Fritz Pleitgen

Liebes Christentum,

was mir an Dir gefällt: Der Mensch, der Dich verursachte, hat kein Buch geschrieben, keinen Katechismus, keinen Katalog von Glaubenssätzen, keinen Codex kirchlicher Verwaltungsvorschriften. Das ist erstaunlich riskant. Es ist geradezu tollkühn. Da kommt ein unbehauster Wanderprediger und sagt von sich, er sei "der Weg, die Wahrheit und das Leben" und schreibt nicht einmal ein Buch, in dem alles authentisch und dauerhaft verzeichnet wäre. Was tut er statt dessen? Er sorgt für ein paar Ereignisse und erzählt Geschichten, die jeder auf seine Weise verstehen oder missverstehen kann. Er tröstet und heilt, er ermutigt und befreit, er glaubt nicht an ausweglose Situationen. Er attackiert sogar die Katechismusschreiber und Regelwerker seiner Zeit, bis er ihnen auf die Nerven geht und sie ihm den Prozess machen.
An Deinem Anfang steht also keine Lehre, sondern ein Leben. Da erklärt einer das Rätsel Gottes, ohne es zu beschädigen, denn statt des unsinnigen Versuchs, es zu lösen, lässt er es die Leute erleben, als eine Art Liebesgeschichte mit ungewissem Ausgang. Nicht anders als die "Beziehungskiste" zwischen zwei Menschen. Sie glauben an sich. Sie "geloben" einander an. Sie wagen und beginnen einen gemeinsamen Weg voller Irrtümer und Erkenntnisse, voller Entdeckungen und Abenteuer und fürchten eigentlich nur eines: anzukommen, fertig zu werden, eines Tages am Ende zu sein.
Aber wie um Himmels willen kann es einen gemeinsamen Weg zwischen Gott und Mensch geben? Wie kann man sich verständigen? Muss hier nicht jede noch so tiefe Erkenntnis des Menschen ein Missverständnis sein? Der gute alte Goethe hatte einen hilfreichen Gedanken und - so kennen wir ihn - konnte ihn auch noch auf den Punkt bringen: "Vor dem Unerreichbaren kann man sich nur retten, indem man es liebt." Das gefällt mir an Dir. Da, wo Du bei Dir bist, stellst Du die Liebe in den Mittelpunkt. Sie ist die Trägerwelle der Kommunikation, denn man kann jemanden vollkommen lieben, ohne ihn je zu verstehen. Und dann entstehen neue Ereignisse und Geschichten. Einfache Leute haben plötzlich Mut, springen über ihren Schatten, gehen an die ..Hecken und Zäune" und streichen über das verlauste Haar eines Bettlerkindes. Sterbliche Menschen kümmern sich mit anarchischer Leidenschaft um andere, zeigen einen erstaunlichen Reichtum an Ideen und eine phantastische Starrköpfigkeit, wenn man sie zwingen will, eine Sackgasse als unwiderruflich zu akzeptieren.
Nun bist Du schon 2000 Jahre alt, und man darf fragen, ob sich die Sache gelohnt hat. Vielleicht ist ja die Summe des Heilens, der Befreiung, der Wohltaten und Erleuchtung gleich derjenigen der Verirrungen, der Verletzungen, Verfolgungen, Verbrechen und Düsternisse, die ebenfalls in Deinem Namen geschahen. Ein Null-Summen-Spiel also - oder gibt es einen kleinen, geheimnisvollen Rest?
Das musst Du selbst herausfinden. Und jeder von den Deinen muss sich fragen, welchen Anteil er an der einen oder der anderen Waagschale hat. Und wieder helfen keine Bücher. Es muss sich ereignen. Erzähl neue Geschichten. Zeig den Leuten jenen Spielraum, den sie nicht mehr erkennen! Mach ihnen etwas Mut, wo sie sich ängstlich verkriechen wollen - auch den Reichen und Mächtigen! Machs wie in jeder lebendigen Beziehung: Besser Dich drauflos!
Ob es den Gott wirklich gibt, an den Du glaubst, kann ich nicht entscheiden. Aber die Menschen fragen sich, ob es sich lohnt, dass jemand an ihn glaubt, - und sei es irrtümlich. Zeig`s ihnen!

Mit freundlichem Gruß
Dein Fritz Pleitgen


(aus einer Artikelreihe der Zeitschrift "Christ in der Gegenwart")